Lerneffekt null: Brähmer verliert gegen Veit

Eigentlich waren sich alle sicher: Jürgen Brähmers Kampf gegen Mario Veit wäre nur eine Zwischenstation für einen richtig seriösen Titelkampf, vielleicht schon WM-Kampf, ein weiterer Lernkampf nach der Lektion gegen Andre Thysse.

Von wegen… Eher Rückschritt, einer der Sorte, da muss man (leider) Günter-Peter Ploog beipflichten, bei dem Klaus-Peter Kohl das Abendessen ‘ne Etage tiefer rutscht. Unter dem Aspekt des Matchmakings muss Jürgen Brähmer jetzt erst einmal eine Ehrenrunde drehen, während sich mit dem eher unattraktiven, passiv boxenden Veit kaum was anstellen läßt. Veit gegen Markus Beyer? So alt möchte Kohl kaum gegen Sauerland aussehen…

Zum Kampf. Die Fakten: Split Majority Decision mit 115:113, 114:113 und 114:114, 2-1 Richterstimmen für Veit.

Ich selber hatte Veit 115:112 vorne. Für Brähmer sprachen die Runden 1, 2, 3 und 10, Runde 1 mit Niederschlag.

Brähmer begann mit einer typischen Brähmer-Runde in Runde 1: etwas ungestüm, schnelle Hände, offen aber schlaggewaltig. Zum Ende der ersten Runde riß die Veit’sche Deckung durch Brähmers Rechte auseinander und die Linke brachte Veit zu Fall.

Was danach zu Fall kam, war die Initiative von Brähmer. Ab Runde 2 boxte Brähmer nur noch lasch weiter. Mit Wohlwollen konnte man die Runden 2 und 3 noch geben, aber spätestens mit Runde 4 war Veit endlich in dem Kampf, hatte die Distanz zu Brähmer (einigermaßen) gefunden und setzte dann und wann Treffer.

Es war kein Schlagabtausch. Brähmer schlug so gut wie gar nicht, ruderte wie wild mit seinem Oberkörper für pseudomäßige Meidbewegungen rum und Veit traute sich trotz Reichweitenvorteile kaum auf Schlagdistanz zu gehen und suchte die Lücke um zu versuchen reinzukommen. Veits Mittel sind limitiert, aber die hat er ausgeschöpft. Mehr konnte man nicht verlangen, schon gar nicht nach dem Gegenwind gegen Veit im Vorfeld.

Was Brähmer (nicht) anstellte, war bestürzend. In einer Ringpause sagte Brähmer selber es fehle der Saft, wie könne das sein, wo er sich vor dem Kampf so gut gefühlt hat. Brähmer war also soweit bei Sinnen, das er gemerkt hat, was mit ihm los war. Genutzt hat es ihm nichts. Vielleicht hätte Coach Michael Timm auch etwas lauter werden müssen, statt von Runde zu Runde immer mehr wie ein depressives Kevin Spacey-Double auszusehen.

Brähmer kann als vermeidliches Jahrhunderttalent erstmal ad acta gelegt werden. Zur Wiedervorlage in einem Jahr.

Ein Wort zum ZDF: Günther-Peter-Plog brauchte 5-6 Runden um sich von seiner vorgefassten Meinung pro-Brähmer zu lösen, es fiel ihm hörbar schwer.

Vor dem Hauptkampf schien sich Rene Hiepen so sehr auf das Frauenboxen zu freuen, dass er kaum noch einen Satz gerade raus bekam. “Schönen Kampf Ihnen”.

Neues ZDF-Feature zur Erhöhung des Suspense: nach Ende der 12ten Runde wird bis zur offiziellen Verkündung des Urteils eine vermeintlich adrenalinsteigernde Hintergrundmusik eingespielt. Wie schön dass das ZDF der Sportart und dem Event soviel Vertrauen schenkt, Spannung von alleine erzeugen zu können.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Meine Card:

    Brähmer-Veit
    10-8
    10-10
    9-10
    10-9
    9-10
    9-10
    9-10
    9-10
    9-10
    9-10
    10-10
    9-10

    Ein verdienter Sieg für Veit meiner Ansicht nach. Ich hatte schon Sorge, dass man noch ein Urteil für Brähmer durchbringt, wenn er in den letzten beiden Runden überzeugt, aber da hat Veit sich dann die Butter doch nicht mehr vom Brot nehmen lassen (ich hatte sogar Sorge, dass Veit auf den Cards führend wegen des kleinen Cuts rausgenommen wird … aber der Beyer-Bika-Arzt war “nicht am Auge”…). “Röntgen-Auge” Ploog mit dem magischen Score-Card-Blick hatte vielleicht wohl recht, ich weiß nicht wies ausgesehen hat, aber wenn der 114-113-Kerl dem Veit die 12te gegeben hat, dann hätte Brähmer auch noch beinahe mit nem Draw davon kommen können.
    So hats aber nicht gereicht. Brähmer enttäuscht wie schon gegen Thysse … schon da hat er “talent”, aber nicht “Jahrhundert” erkennen lassen.
    Da mag er zwar am Anfang mit Meidbewegungen und schnellen Kombinationen ankommen, als hätte er im Gefängnis immer schön Roy Jones Videos geguckt, aber auf Dauer langt das dann doch nicht (die anderen gucken die Videos auch).
    Schade, dass ich mich bei meiner Prediction nicht entscheiden konnte. Ich hatte Brähmer den Sieg zugetraut, mich aber doch von der 4.50-Quote auf Veit locken lassen (das gleicht die Verluste durch Audey Harrison wieder ein wenig aus).

    Sicher nicht das erhoffte Ergebnis für Kohl … aber besser ein eigener Boxer zeigt, dass Brähmer noch nicht komplett ist, als ein anderer Top20-Mann.
    So kann man wenigstens aus Veit noch ein bisserl was machen … wenn man Lust hat.
    Und Brähmer? Der stellt sich wieder hinten an.
    Aus ihm kann was werden, ja … aber er war noch nicht so weit. Manchmal braucht die Entwicklung eines Profiboxers doch so seine Zeit…

    P.S.: “Majority Decision” heißt das Ding ;)

  3. ???
    Aber was war denn da intern bei Universum los? Timm schien ja den internen Kampf grundsätzlich gut zu finden, auch wenn sein Schützling verloren hat, aber alle anderen waren wenig begeistert. Auf jeden Fall wirkte das reichlich merkwürdig. Der Verlierer meinte, daß er trotzdem (an Erfahrung) gewonnen hatte, der Gewinner drückte seinen Unwillen aus, sich über den Sieg zu freuen. Und kein Reporter traut sich das mehr als übermächtige Thema beim Namen zu nennen …

  4. Uff…und ich hab mir schon Sorgen gemacht, daß die Punktrichter in Deutschland heute nicht bescheissen können.

    Gottseidank bekamen sie beim Damen-Kampf noch ihre Chance!

    Dachte schon, daß ich mein Weltbild ändern muss…. aber das ist ja gottlob nicht notwendig. Gratuliere der “deutschen” Siegerin *rofl*

  5. @Deslizer: Danke, habs korrigiert

    @Spundflasche: Ich hab den Eintrag vor dem Interview der vier im Sportstudio geschrieben. Ich war verblüfft wie stressfrei alle vier das gesehen habe und wie sportiv Sdunek und Timm es gesehen haben. Man hätte (und hat) ja auch eine prima Geschichte drumherum stricken können: “Kronprinz versucht König zu stürzen” oder so, aber nix da. Timm und Sdunek machten wirklich den Eindruck als würden sie nach dem Kampf in Hotel noch gemeinsam eine Flasche Rotwein sich hinter die Binde kippen.

    Ich bin kein großer Freund des mitunters sehr plump daherkommenden Ulli Wegners, aber ich fand auch seine Reaktion gestern sehr entspannt: er hat sich halt als “Altersgenosse” sehr für den “Fritz” gefreut. Also keine Stichelei des Markus Beyer-Lagers.

    Also alle drei Trainer sehr relaxt, sehr entspannt. Hat mir noch besser als der Kampf gefallen.

  6. Heute steht im Hamburger Abendblatt erhellendes dazu: http://www.abendblatt.de/daten/2006/05/29/567583.html. Klaus-Peter Kohl hatte das Ganze wohl inszeniert.
    Spannendste Aussage von Jürgen Brähmer: “Ich fand es unfair, was man mit Mario vorhatte, deshalb kann ich die Niederlage auch mit Fassung tragen.” Er habe sich zwar nicht absichtlich hängen lassen, “dafür ging es auch für mich um zu viel”, aber im Unterbewußtsein könne die Belastung, einen Kollegen in den Ruhestand schicken zu müssen, “schon für eine Blockade sorgen.”
    Diese Offenheit zumindest einiger Verantwortlicher und diese Art der Berichterstattung trägt zum längst fälligen Glasnost in der Sportart bei. Ohne das bleibt Boxen ein Jahrmarktvergnügen wie Wrestling.

  7. Im Abendblatt-Artikel gibt es noch härtere Auszüge:

    Brähmer wirkte, und das war das Überraschende, leidenschaftslos, fast zurückhaltend, so als habe er Mitleid mit dem Kollegen, als dessen letzter Gegner er vorgesehen war. Ursprünglich war man im Universum-Management davon ausgegangen, den durch seine lange Karriere – Veit bestritt in München seinen 50. Profikampf – kostenintensiven Cottbuser mit einer Niederlage gegen den aufstrebenden Brähmer elegant “entsorgen” zu können.

    Wäre auch eine Erklärung für den sehr relaxten Umgang miteinander von Sdunek, Timm und Wegener.

  8. […] Quelle: allesaussersport.de […]