Tour 2006: die Sonderhefte

In Wiederaufnahme der Tradition vom letzten Jahr habe ich in den letzten Tagen wieder mit dem Geld geprasst und Tour-Sonderhefte gekauft.

Und seit den Vorkommnissen von gestern sind die knapp 15-20 EUR auch fürn Gully, denn das Fahrerfeld hat es nach der Suspendierung von u.a. Basso und Ullrich ziemlich zerissen.

Wenn Zeitungen, insbesondere die Medienredaktionen über die Tour-Berichterstattung schreiben, dann hagelt es Kritik an den Reporter, die einen zu soften Umgang mit dem Thema Doping pflegen. Das mag mitunter berechtigt sein, wenn ich an so manchen Kommentar in den 90ern von Klaus Angermann und Tony Rominger denke. Wie sollen aber Kommentatoren während der laufenden Berichterstattung idealerweise mit dem Thema umgehen? Beim Anstieg auf Alpe d’Huez bei jedem Ausreißversuch drei Minuten lang relativierende Sätze sprechen und Zweifel sähen? Ist das realistisch?

Genau in diesem Dilemma des “Sternchen-Journalismus” stecken die Radsportmagazine und Tour-Sonderhefte: alles was man liest, wird geistig mit dem imaginären Sternchen versehen. Nette Leistung von Basso, aber war er sauber? Schicke DVD von CSC, aber sieht man wirklich alles? Olaf Pollack erzählt von seinem Giro. Erzählt er uns alles? Vielleicht müssen diesen Radsportmagazinen inzwischen “Packungsbeilagen” beigelegt werden, wie diese Hefte zu lesen sind und das Doping prinzipiell bäh wäre und man nicht wüsste ob dieser oder jener Fahrer…

Zu Zeiten wie solchen, nachdem der spanische Dopingsturm gestern über das Tour-Fahrerfeld hinwegfegte, kann man die Tour-Sonderhefte nicht mehr mit normalen Augen lesen.

Nicht zuletzt weil die Magazine schon per Cover Angriffsfläche bieten. Die Tour-Sonderhefte werden allesamt mit einem Jan Ullrich auf dem Cover geschmückt, die Headlines kündigen von neuen heroischen Taten. In den neun Jahren Jan Ullrich hat man es nicht geschafft, verkaufsfördernde Alternativen aufzubauen. Und wenn jetzt Jan Ullrich gegen die Wand fährt, ist das Zittern und Klappern laut vernehmbar. Das Spielchen wird dann übrigens auch von den Medienredaktionen mitgespielt, die am Tage nach dem GAU erst einmal fragen, ob eine derart ausführliche Berichterstattung über die Tour für ARD, ZDF und EUROSPORT noch Sinn mache und damit die gleiche engstirnige “personenabhängige”Sichtweise zeigen, die sie ansonsten sehr gerne kritisieren.

Die Hefte: das Tour-Sonderheft der “Tour”, sozusagen der “KICKER” unter den Sonderheften, habe ich mir diesmal geschenkt. Cover Jan Ullrich “Das ist mein Weg!”. Zu erwarten sind: guter Standard. Sowohl nach oben als auch nach unten überraschungsarm.

Auch nicht dabei, die Billigproduktion aus dem OZ-Verlag. Das musste ich mir nicht noch ein zweites Mal geben.

ProCycling Juli 2006

148 Seiten, 4,80 EUR

Das letztjährige Heft war für mich eine Überraschung. Die deutsche Version des englischen Radsport-Magazin bot gutes Papier, gutes Layout, relativ originelle Themen und sauberes Nachschlagewerk, kurz: der “Testsieger”.

Und viel hat sich daran nicht geändert. Das Tour-Sonderheft kommt als herausnehmbare Beilage (kleiner als DIN A4), 36 Seiten, aber auch das “Hauptheft” besitzt mit Portraits über Jan Ullrich, Valverde etc… tourkompatible Themen. Im Vergleich zu anderen Heften ist der Mantelteil wesentlich weniger techniklastig.

Anders als im letzten Jahr, kommt die Beilage diesmal ohne zusätzlichen Artikel, sondern beschränkt sich auf Etappen und Teams. Die Etappen werden jeweils auf einer halben Seite abgehandelt: original Tour-Streckenprofil, Marschtabelle und eine sehr kurze Einschätzung von Laurent Jalabert. Die Bergetappen haben eine ganze Seite spendiert bekommen, weil zusätzlich eine Landkarte eingeklinkt ist.

Die Teams werden ebenfalls auf je einer halben Seite dargestellt: Photo, Portrait des mutmaßlichen Topfahrers, eine Auswahl von 12 Fahrern aus denen sich die Mannschaft rekrutiert und eine kleine Statistik. Im Gegensatz zum letzten Jahr fehlt es an einer Einschätzung des Teams.

Das macht die Sonderbeilage karger. Das gesamte Heft ist auch mit schwächelnder Sonderbeilage mit langen Artikeln und schönen Photos lesenswert, sofern man die “Sternchen-Frage” ausklammert. So gibt es einen zweiseitigen Artikel über das abgelaufene Jahr von Lance Armstrong. Es wird zwar ein Prozeß von Armstrong gegen einen ehemaligen Betreuer erwähnt, aber der große, monatelange Prozeß mit der Versicherung um die Tour-Siegprämien wird ausgeblendet. Fünfseitiges Interview mit Ullrich und Pevenage ohne dass das Wort Doping einmal fällt.

KICKER-Sonderheft “Tour de France”

116 Seiten, 4,– EUR

Wenn man das Vorwort von der Radsportlegende Rainer Holzschuh liest, möchte man das Heft am liebsten gleich wieder weglegen: “das Jahr 2006 – ein Jahr der sportlichen Superlative, vor allem aus deutscher Sicht. Primär natürlich angeführt durch das Heimrecht der Fußball-WM. Aber auch die Tour de France bietet traditionell großen Sport und speziell den deutschen Sportfans reizvolle Perspektiven […] Mit diesem Sonderheft zur Tour de France wollen wir Ihnen wie in den drei Jahren zuvor einen verlässlichen und informativen Begleiter zur Hand geben.”

So klingt ein Altenpfleger wenn er Senioren einen Dackel schenkt: “einen verlässlichen und informativen Begleiter zur Hand geben“. Und so klingt ein hauptberuflicher Fußball-Chefredakteur, wenn er sogar im Tour-Sonderheft erst einmal die Fußball-WM erwähnt, bevor er zur Tour kommt “Aber auch die Tour bietet großen Sport“. Autsch!

Die Bundesliga-Sonderhefte des KICKERs zeichnet sich durch langweilige, aber solide Artikel aus, mit einem Layout was seit zirka 1973 unverändert durch die Druckpresse gejagt wird. Weil dies mein erstes Tour-Sonderheft des KICKERs gewesen ist, ist dieses Layout schon qua Existenz frisch.

Die Themen des Heftes sind wenig überraschend: Interviews mit den Tour-Favoriten a.D Ullrich und Basso, sowie Portraits der Verfolger dahinter. Portrait von Erik Zabel und eine Bestandsaufnahme der deutschen Radsportszene. Immerhin einen einführenden zweiseitigen Artikel über Doping.

Die Artikel sind um eine Größenordnung schwächer als in der ProCycling, aber dafür punktet der KICKER mit einem überraschend fetten Datenteil.

Jede Etappe wird auf einer Seite abgehandelt: Marschtabelle, nicht-originales Streckeprofil, längere Einschätzung von Tobias Steinhauser und Blick in die Historie.

Die Teams gibt es auf jeweils zwei Seiten: eine “Photo-Seite” mit den wichtigsten Fahrern des Teams, Team-Historie und das Rennrad. Auf der zweiten Seite eine Auswahl der Fahrer aus dem Teams, mit Platz um eigenhändig die Startnummer nachzutragen, Beschreibung der drei wichtigsten Fahrern, Teameinschätzung und Auflistung der Personen aus dem Management.

Ganz clever: hinter jedem Fahrer gibt es fünf Spalten in denen per Pfeil die Qualitäten des Fahrers für Berge, Sprint, Gesamtklassement, Etappensiege und Zeitfahren angezeigt werden. Abgerundet wird es mit einem Zahlenteil über die Klassements der letzten Tour.

Der Datenteil schlägt die Sonderbeilage der ProCycling um Längen und ist, wer es mag, alleine den Kauf wert.

RennRad

164 Seiten, 3,20 EUR

Der Mittelteil des Heftes, knapp 80 Seiten, ist der Tour gewidmet. Mißtrauen erweckt der Umstand dass nahezu die kompletten ersten 40 Seiten dieses Teils von nur einer Redakteurin, Christina Knapp geschrieben worden sind, inkl. der 8 Seiten Giro-Berichterstattung am Anfang des Heftes. Mißtrauen insofern, weil ein solcher Ausstoß entweder zu Lasten der Aktualität und/oder Qualität geht.

Optisch macht der Tour-Teil nicht viel her. Es ist eine Orgie an 08/15-Fahrerphotos. Da die anderen Artikel (z.B. übern Giro) durchaus bessere Photos zeigen, unterstreicht es den Eindruck, dass der Tour-Teil über einen längeren Zeitraum zusammengeschrieben wurde und nun gefriergetrocknet Anwendung findet.

Die Artikel: Kurzportraits der potentiellen Lance-Nachfolger, Portraits der deutschen Profis, Portrait von Erik Zabel, die Geschichte deutscher Rennfahrer bei der Tour, die großen historischen Tour-Duelle, Mythos Alpe d’Huez.

Das sind Artikel, die man auch an langweiligen Weihnachtsfeiertagen runterreißen und dann in die Gefriertruhe bis zum Sommer stecken kann oder die man vor Jahren bereits veröffentlicht hat und nun quick umschreibt. Anquetil vs. Poulidor? Come on…

Zwei der interessanteren Artikel waren ein recht technischer Artikel über das Zeitfahren und ein Interview mit Karsten Migels, über den man so wenig weiß, dass man eh jedes Interview mit ihm lesen möchte.

Auffallend sind drei weitere Artikel. Zum einen ein zehnseitiger Artikel über das Team Gerolsteiner (also: 1/8 des Tour-Teils!). Umfang und Aufmachung (die völlig aus dem Rahmen des Tour-Teils rausfällt) lassen den Artikel wie gekauft erscheinen. Ähnlich wirken auch drei Artikel über die touristischen Attraktionen der Bourgogne und zwei Radsport-Reiseveranstalter, die sich auf insgesamt zwölf Seiten ausbreiten dürfen.

Ach so, und gibt es Streckenprofile und so? Ja, so ein büschen. 2-3 Etappen werden pro Seite abgenudelt, die Streckenprofile sind billig nachgemachte Attrappen der Originale, mit kurzer Beschreibung versehen. Teamprofile gibt es keine.

Von allen vier Heften mit Abstand der schwächste Tour-Teil und der Mantel-Teil kann da auch nichts gut machen.

Le Tour de France – das offizielle Programm

130 Seiten, 4,60 EUR

Das “offizielle Programm” heißt auch, dass ARD und ZDF als offizielle Partner ihre Finger mit drin haben. Ich hätte aber mir gewünscht, dass die Identifikation zu diesem Produkt soweit gegangen wäre, dass man mehr von und über Reporter gelesen hätte, als nur ein Vorwort des ARD/ZDF-Teamchefs Roman Bonnaire, ein Kommentar von Marcel Wüst und die Einschätzungen von Rolf Aldag.

Das Heft kommt angenehm magazinig daher. Schönes Papier, guter Druck, gute Bindung, das Layout einen Tick zu spröde.

Inhaltlich war man sich der tickenden Zeitbombe zumindest ein wenig bewusst. Im Editorial wurde schnell per Einklinker um Entschuldigung gebeten, dass die beiden Vorwörter die aktuelle Entwicklung rund um Liberty-Seguros und Manolo Saiz nicht berücksichtig werden konnten und stattdessen über mehrere Sätze über die “magischen Momente” der Tour schwelgten.

Doch zum Glück geht ein eiligst hinzugefügter Artikel “Spanien im Blutrausch” von Andreas Ganz recht offen mit dieser Problematik um: “In diesem Heft werden Sie hoffnungsvolle Formulierungen finden wie ‘So offen wie in diesme Jahr war die Tour schon lange nicht mehr.’ Angesichts der Meldungen aus der spnaischen Radsportszene sind wir nun geneigt zu sagen: ‘Aber ganz so offen hatten wir uns das jetzt noch nicht vorgestellt’.” In diesem Ende Mai geschrieben Artikel schafft es Ganz den spanischen Skandal kruz zusammenzufassen und dabei auch Szenarien zu entwerfen, die die gestrigen Geschehenisse vorwegnahmen. Die Verstrickung von Basso und Ullrich wurde erwähnt und ein Ausschluß der großen Tourfavoriten für möglich gehalten.

Gemessen am Redaktionsschluß und im Vergleich der anderen Tour-Sonderhefte, ist dieser Artikel ein Glückgriff für den Journalisten und der Redaktion gewesen.

Die Artikel kommen größtenteils von einer internationalen Redaktion, die dann in unterschiedliche Sprachen übersetzt und produziert werden. Das kommt dem Heft zugute, weil es im Gegensatz zu anderen Sonderheften, nicht diesen engen Blick auf “das Deutsche” haben.

Die Themen sind “Standards” und haben keinen sonderlich originellen Ansatz: Interview Basso, ein Portrait von Ullrich aus französischer (und damit tendenziell Anti-Ullrich-Sicht), ein tabellarischer Vergleich der Stärken und Schwächen der zehn Tour-Favoriten, eine Zusammenfassung des Giros, Artikel über die US-Amerikaner, die Franzosen, die Vermarktung, die Taktik im Feld in der Post-Armstrong-Tour. Nichts besonderes, aber sehr umfassend und: solide.

Der Datenteil: für jede Etappe eine Seite mit dem offiziellen Streckeprofil und der ausführlichsten Marschtabelle aller Hefte. Die Bergetappen besitzen zudem eine große Landkarte und für einige Anstiege ein gesondertes Profil, dass abschnittsweise je nach Steigungsgrad eingefärbt ist. Abgerundet wird es mit Kommentaren von Rolf Aldag.

Die Teams werden auf je einer Seite vorgestellt: der komplette Kader 2006, eine kurze Einschätzung von Bernard Hinault und Abbildung des Teamfahrrades.

Hinten gibt es nochmal einen Schwung an Daten aus den vorigen Rundfahrten und Rekorde.

Das Gesamturteil

Den klaren Sieger wie im Vorjahr, gibt es nicht. Dazu ist die Sonderbeilage von ProCycling zu dünn geworden.

Das beste “Allround-Paket” bietet das offizielle Tour-Programm. Die gefälligsten Artikel bot die ProCycling, knapp gefolgt vom offiziellen Tour-Programm. Und für den Platz neben der Fernbedienung haben sich das KICKER-Sonderheft und das offizielle Tour-Programm qualifiziert. Eine Frage des persönlichen Geschmack welches von beiden man bevorzugt, aber das Tour-Programm wirkt authentischer als das KICKER-Sonderheft.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Das Bild zum kicker-Heft ist falsch verlinkt.

  3. Danke für den Hinweis.

  4. Frnzösische Sicht ist tendenziell Anti-Ullrich-Sicht? Man könnte ja fast sagen, dass es jetzt auch egal ist, aber ich dachte immer, dass die Franzosen Ullrich als ewigen Zweiten und Herausforderer von Armstrong ins Herz geschlossen hätten?

  5. Wenn die Franzosen in Laufe der jahre noch Sympathien für Ullrich hatten, dann eben, weil er der stärkste (na ja) Gegner vom noch unbeliebteren Lance Armstrong war.

    Ansonsten war es jedes Jahr dasselbe: im Frühjahr kamen die Schlagzeilen über den trainingsfaulen und übergewichtigen Ullrich und während der Tour wurde bemängelt, dass er zuwenig aus seinem talent und körperlichen Voraussetzungen mache und zuwenig “Panache” zeigt.

    Aus Sicht der Franzosen war Ullrich zu kühl, zu unpersönlich, zu sehr eine “Maschine”. Durch seine mitunter sehr passive Haltung in den Bergen hat er viele Sympathien verspielt.

    In Frankreich bevorzugt die Volksseele lieber bodenständige Typen, die sich zerreißen. Deswegen ist ein Virenque so beliebt gewesen (trotz zahlreicher schräger Geschichten inkl. Dopings). In den Bergen war er alle 2-3 tage für Spektakel gut, auch wenn es nur Show war. Oder jemand wie Thomas Voeckler, ein Underdog der vor zwei Jahren sich die Seele aus dem Leib gefahren ist, um das gelbe Trikot über die Berge zu retten.