Die Nationalmannschaftsaudienz

Die Donnerstagspressekonferenz ist aus unterschiedlichen Gründen die vermutlich interessanteste des ganzen Turniers gewesen.

Die gesamte Mannschaft hat gestern abend freiwillig und aus eigenem Antrieb (wurde mehrfach betont) beschlossen sich am Sonntag mittag auf der Berliner Fanmeile von den Fans zu verabschieden. Der Auflauf dürfte unbeschreiblich sein.

Jens Lehmann wirkte in der PK so relaxt wie noch nie. Sowohl in Rhetorik als auch Mimik. Die “Fehde” mit Oliver Kahn ist wohl endgültig ad acta gelegt. Er hätte kein Problem wenn die Mannschaftsführung entscheiden würde, Kahn am Samstag ins Tor zu stellen, sagte er. Dabei sprach und sah er nicht nur so aus, als ob er nix dagegen hätte, sondern dass er es ihm sogar gönnen würde. Das war in zwei Sätzen mehr Wärme als es zwischen den beiden in den letzten zwei Jahren zusammen gegeben hat. Wer noch vor einer Woche Lehmanns harsche Reaktion auf die Frage, ob er mit Kahn mal gemeinsam einen Trinken gehen und die Rechnung übernehmen würde, ahnt was sich da verändert haben muss.

Den Zettel aus dem Argentinien-Spiel führt Lehmann noch bei sich, wird er vielleicht in ein Museum geben. Er erzählte auch ausführlich die Geschichte seines Kaugummis. Normalerweise würde bei ihm ein Kaugummi für eine Halbzeit reichen, aber diesmal fühlte sich der Kaugummi bereits nach einer halben Stunde “weich” an und “war nicht mehr der Bringer”, deswegen bat er im laufenden Spiel einen Balljungen zur Trainerbank zu rennen und sich einen Kaugummi geben zu lassen. Der Junge war zuerst so verdutzt, dass er nichts verstanden hat.

Interessant wurde es auch, als die Sprache auf Klinsmanns und Lehmanns Zukunft kam. Lehmann wollte sich noch nicht festlegen lassen, sondern den Urlaub und die Entscheidung von Klinsmann abwarten. Lehmann hatte z.B. dank fehlender Winterpause in England seit nun knapp 50 Wochen nicht mehr als zwei freie Tage am Stück gehabt.

Lehmann hat ziemlich unverholen versucht Klinsmann zu einem Weitermachen zu bewegen. Sinngemäß: Klinsmann habe mit seiner Methodik auch innerhalb der Mannschaft Erwartungen geweckt und dass müsse nun fortgeführt werden. Es hatte den Tonfall “er kann doch jetzt seine Junge nicht verraten”.

In der aktuelle ZEIT hat Moritz Müller-Wirth ein schönes Portrait des Nationaltrainer Klinsmann gezeichnet, der in eine ähnliche Kerbe schlägt. Klinsmann zwischen dem “Ich” und “Wir”

Klinsmanns »Ich« bezeichnet den Familienmenschen, dem die Achtung seiner Privatsphäre durch die Medien für den Verbleib im Bundestrainer-Job wichtiger ist als ein gewonnenes Halbfinale. Der, wenn man ihn in den USA auf dem Handy erreicht, gerade dabei ist, seine Kinder in die Schule zu bringen, der sich am Abend vor Bekanntgabe des WM-Kaders Gedanken darüber macht, dass er das wiedervereinigte Deutschland, dass er das Land, dessen Hoffnungsträger er geworden ist, eigentlich noch gar nicht kennt. Das »Ich« steht aber auch für ein Alphatier, das seine engsten Berater detaillierteste Pläne entwickeln lässt, um sich dann doch nur eines Bruchteils, seines Bruchteils davon zu bedienen. Für den unabhängigen Quereinsteiger, der dem Boulevard droht, »man könne ab sofort die Tür auch zumachen«. Das »Ich« steht außerdem für Sturheit und Ungerechtigkeiten im Umgang auch mit Mitarbeitern. Vor allem steht das »Ich« jedoch für ein großes Rätsel.

Während der zwei Jahre seiner Amtszeit war dieses »Ich« für Klinsmann stets der Fluchtpunkt, das Refugium. Er wusste, würde das »Wir« scheitern, dann existierte da immer noch das »Ich«, der Rückzug. Das »Ich« ist seine gefährlichste Waffe, eine innere Ausstiegsklausel, die Nähe verhindert, wo Nähe geboten ist, auch Irritation stiftet, wo Vertrauen nötig wäre.

[…] Kürzlich, man logierte schon im Mannschaftshotel im Berliner Grunewald, nimmt ein Vertrauter Klinsmann beiseite. Es geht um die Zukunft. »Jürgen«, sagt der Freund, »du kannst doch die Jungs nicht einfach einem Nachfolger überlassen, der sie dann wieder auf destruktives Spiel zurückschult.« Dies trifft die Gemütslage des Bundestrainers auf den Punkt genau: Seine Spieler sind ihm, weit über die Taktiktafel und die Medizinbälle hinaus, ans Herz gewachsen. Wenn also das »Ich« auch das Synonym für die unersetzliche Geborgenheit innerhalb der kalifornischen Kernfamilie ist, so steht das »Wir« inzwischen für die Möglichkeit einer doppelten Haushaltsführung.

Die einfache Erklärung für die emotionale Annäherung des Trainers an die Mannschaft wäre der Rausch des Erfolgs, die wahre Erklärung indes ist noch viel einfacher: Von Anfang an hatte Jürgen Klinsmann bei seiner Arbeit vor allem einen Referenzpunkt – sich selbst. Er schuf einen Kader, dem Spieler angehören, die seinem eigenen Ideal als Stürmer nahe kamen: selbstständig, charakterfest, mannschaftsdienlich. Deshalb ließ er manche zu Hause, die er hätte berufen müssen, wäre es allein um die fußballerische Stärke gegangen. Er lässt die Spieler trainieren, wie er selbst trainiert hat: mehr als üblich, weil mangelnde Begabung durch harte Arbeit ausgeglichen werden muss. Er motiviert sie, wie er sich selbst motivierte, um über sich hinauswachsen zu können: durch das Berauschen am eigenen Rausch. Und er führt sie, wie er selbst gern geführt worden wäre: im Dialog und doch Halt gebend durch Autorität. Das »Ich« als Blaupause für das »Wir« – ist das Hybris oder Führungsstärke, Sturheit oder Strategie?

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Wurde was zum Spiel um Platz 3 gesagt? Motivation? pi pa po?

  3. Was ist denn mit dem Mertesacker – davon habe ich nichts mitbekommen?!

    http://fifaworldcup.yahoo.com/06/de/060706/6/5jip.html

  4. Re: Motivation
    Na ja, das übliche halt. Was sollen Lehmann und Klose auch sagen.. “Nö, ham kein Bock”.

    Wie gesagt: beim Torwart kann es sein, dass man Kahn reinstellt. Kloses Einsatz ist fraglich, da es in seiner Wade zwackt, abert spielen würde er schon gerne.

    Re: Mertesacker
    Keine Ahnung was da war. Es wurde nur kurz zu Beginn der PK erwähnt. Mertesacker wäre am gestigen abend nach München geflogen, wo er heute wegen einer Schleimbeutelentzündung an der Ferse operiert wurde.

  5. Nix ist langweiliger als Pressekonferenzen, ausser Pressekonferenzen von Fusballern.
    Lehmanns Kaugummi? Jesus-Maria-Gmbh & Co KG, was wird jetzt alles geschrieben und hinein interpretiert. Wann kommen die ersten Tagebücher in den Buchhandel? “Meine Tage auf der Bank” oder “Ein Kaugummi dauert 45 Minuten” oder “Was ich in dem Moment dachte, als ich den dritten Elfer verwandelte”… oder… argh!

  6. Beim Kaugummi geht es mehr um den Jungen der dann bei Klinsi war um es dort zu holen.Sollte aber auch eine Selbstverständlichkeit sein das sich Klinsi darum kümmert.

    “Er erzählte auch ausführlich die Geschichte seines Kaugummis. Normalerweise würde bei ihm ein Kaugummi für eine Halbzeit reichen, aber diesmal fühlte sich der Kaugummi bereits nach einer halben Stunde “weich” an und “war nicht mehr der Bringer”, ”

    Köstlich.:-)

    Aber noch was anderes.
    Ohne das gute Abschneiden der Deutschen Mannschaft wäre diese WM doch die schlechteste WM gewesen die ich gesehen habe.
    Das hat natürlich viel davon abgelenkt.Wäre Deutschland z.B. gegen Schweden rausgeflogen.Oh Gott.

  7. Ich war mir nicht sicher ob die Geste von Oliver Kahn zu Jens Lehmann (das Kopf streicheln etc.) beim Elfmeterschiessen gegen Argentinien nicht nur einfach coole Taktik war. Konnte Oli damit doch viele Sympathien zurückgewinnen die er vorher “verspielt” hatte.

    Schon die Werbung mit Waldi und der Spruch “Auf der Bank isses doch immer noch am schönsten!” wirkte auf mich doch sehr gestellt.

    Umso schöner finde ich es, wenn sich die beiden 1a Torleute doch noch gut verstehen und vielleicht ein annähernd freundschaftliches Verhältnis haben.

    Ich fand Klinsmanns entscheidung für Lehmann richtig! Und ich fand die Entscheidung vom DFB für Jürgen Klinsmann auch richtig!

  8. Yeah, das wäre ein Bild: Lehmann und Kahn Hand in Hand dem Sonnenuntergang entgegen…
    @andi:
    Schwache WM, ist auch mein Eindruck. Wenn die Deutschen herausragend waren, lag es eben auch an vielen anderen schlaffen Teams.

  9. ich glaub, es war Effe, der gemeint hat: jürgen sollte den kahn halt still und heimlich fragen, ob er bock hat zu spielen?! ich glaube, das kann er ned haben…. und, wenn ich kahn wäre, würd ich auch keinen bock haben…. was hat die wm uns noch gebracht? ich denke auch, dass ohne deutschland-hysterie alles ziemlich lasche spiele waren… schade… die wm der elfmeter irgendwie, kaum tore & viele alte männer….

  10. Lasch ja, aber es waren auch einige Bringer dabei und einige Spiele die von der taktischen Seite her hochinteressant waren. Als Trainer konnte man sicher eine Menge lernen aus der Wm. Für einen Fussballbegeisterten im Sinne von jemandem der unterhalten werden will, wars wahrscheinlich nicht gerade eine Offenbarung…

  11. Hmm, nicht der Binger? Gute Frage – ich denke mal, dass die Welt fussballerisch zusammengewachsen ist – hier schick niemand den anderen 5:0 nach Hause. Das geschieht nur noch sehr selten. Taktisch fand ich die WM teilweise sogar hochklassisch, weil einfach extrem viel gearbeitet wurde, was man so nicht gesehen hat. Ich denke, es ist eine WM der Defensive und die beiden Teams im Finale bestätigen das. Italien (1 Eigentor) und frankreich (nur 2 Gegentore und dabei gegen Spanien und Brasilien gespielt!) – so läuft es eben:

    Der Strum gewinnt Spiele – die Abwehr gewinnt Meisterschaften!

    Wäre Ballack bspw. von seiner Grundausrichtung nur 10m weiter vorne gewesen, wäre gegen Argentinien wohl schon Schluss gewesen…..

  12. Ach ja, die Leute sind durch Spiele wie Liverpool – Milan verwöhnt, aber sowas kommt auch nur alle Jubeljahre mal vor.

    Einige Spiele bei der WM waren richtig schwach, das stimmt. Aber ein Spiel ist eben nicht nur dann gut, wenn es über vier Tore gibt. Auch wenn der “Pöbel” das gerne mal denkt, weil er vom “Spiel Fußball” nichts rafft. ;-)

    Deswegen, Deutschland – Italien hatte kein Tor in der regulären Spielzeit zu bieten, und war trotzdem eines der besten Spiele der WM – ja sogar des Jahres. Auch ein 0-0 kann sehr attraktiv sein.

    Und deshalb ist das 6-0 von Argentinien gegen die Serben nicht in den “Top 10” der Spiele der WM anzusiedeln, dazu war es zu einseitig.

  13. @Reality Check: Ich hoff der letzte Satz ist ein schlechter Scherz ;). Solche Tore wie das “25-Stationen-Tor” war es schon alleine wert, dieses Spiel unter die 3 besten zu wählen. Was Argentinien da auf den Platz gezaubert hat, war für jeden normal veranlagten Fussballfan einfach nahezu perfekt anzusehen. Serbien-Montenegro war wirklich nicht grossartig bei der WM, aber 1 Gegentor in 10 WM-Quali-Spielen spricht auch eine Sprache…

    Es stimmt schon, daß “taktische” Spiele auch sehr gut sein können, aber solche Spiele wie von Argentinien dann damit einfach abzuwerten, ist schon ein bissl sehr seltsam.

  14. Argentinien – Elfenbeinküste war ein besseres und durchweg interessanteres als Argentinien – Serbien-Montenegro. Dieses war, wie schon erwähnt, zu einseitig.

    Aber alles Geschmacksache!

  15. Alles in allem haben mich die Spiele an dieser WM nicht durchgängig am TV halten können. Die Matches konnten mich vielfach nicht packen. Denke mir, das war für den Fussball-Sport keine gute Werbung, ausser vielleicht für Taktik-Freaks. Gerade an der WM schauen viele Nicht-Fussballangefressene die Spiele. Kann mir nicht vorstellen, dass da neue Fans dieses Sports dazu gekommen sind.

  16. Also insgesamt muss ich sagen, dass die WM zeitweise für mich die Grenze zur Nerverei deutlich überschritten hat. Das lag zum einen an den allenfalls taktisch mitreißenden Spielen – nur selten sah man einen offenen Schlagabtausch wie zwischen Argentinien und der Elfenbeinküste – aber auch an der Abwesenheit von großen Überraschungen (das Ausscheiden von Brasilien zählte für mich nicht dazu) und am Medienhype, der zeitweise schon überhand nahm. Und irgendwie hat dieser Overflow an Berichterstattung, teilweise gekünstelter Begeisterung und Johannes B. Kerner nun dazu geführt, dass mich das Endspiel zweier vor allem defensiv orientierter Mannschaften nicht mehr wirklich interessiert…

  17. Zur Motivation:
    Inzwischen sind schon 5 Stammpieler aus der Elf für Samstag raus.
    Wieviele wären wohl im Finale nicht dabei gewesen?
    Noch Fragen?

  18. dieser Frage ist heut auch Rehagel geschickt ausgewichen…. Ich sage ma, dass ballack nie im Leben auf´s Finale verzichtet hätte… der wär mit einem Bein noch aufgelaufen. Schade für Kahn, denn was soll er mit einer Abwehr anfangen, die ned eingespielt ist?! Andrerseits: der Tag für die Bank zu zeigen, was sie gekonnt hätte. Und viell. wird das dann ja ein Spiel, das einfach Lust am Fußball vermittelt – was man vom Finale wohl nicht erwarten kann….

  19. Das wird ein Confed-Cup-5-zu-3. ;-)

  20. KLINSMANN GEHT !!! – Löw Nachfolger ???

    lt. BILD v. Mittwoch

    So long,

  21. Na dann kann sich der DFB ja wieder gigantisch blamieren bei der Nachfolgersuche.
    Ich sehe schon die nächste TFK

    Gute Nacht