Vor der WM: Six Nations 2011 als Vorspeise

Am heutigen Freitag beginnt die 117te Ausgabe der Six Nations (früher: Home Nations bzw. Five Nations), dem besten Rugby-Ländervergleich den Europa anzubieten hat. Wenn die Six Nations normalerweise jeden Februar und März England, Wales, Schottland, Irland und Frankreich (mit Abstrichen auch Italien) in fiebrige Spannung versetzen, so wird dieses Jahr dem Fan von den Trainern der kalte Waschlappen ins Gesicht geschlagen. Im Jahr der Rugby-WM in Neuseeland (September/Oktober) sind die Six Nations nur der letzte Leistungstest zum Saisonhöhepunkt. Die französische Nationalmannschaft wird zum Beispiel nach Ende der Six Nations bis zur WM nur weitere zwei Vorbereitungsspiele bestreiten (im August gegen Irland) und Wales immerhin noch vier Länderspiele austragen.

Den Beginn der Six Nations möchte ich für einen kleinen Rundumblick nutzen und habe dazu zwei Rugby-Kommentatoren befragt.

Andreas Renner, auch als Fußball- und American Football-Kommentator bekannt, ist seit Jahren der Rugby-Mann bei SPORT1 und wird auch dieses Jahr die Spiele im Free-TV kommentieren. Bei den Übertragungen werden diesmal Manuel Wilhelm und/oder Jürgen Gevatter an seiner Seite sitzen.

EUROSPORT überträgt auf EUROSPORT2 immer wieder Turnier unterhalb der Top-Ebenen wie z.B. den European Nations Cup oder Pacific Nations Cup. Die Übertragungen der European Nations Tour sind leider kurzfristig abgeblasen worden. Bei EUROSPORT ist neben Ingolf Cartsburg und Bernd Gabbei der ehemalige Bundesligatrainer Sven Gabbei Kommentator.

Bei beiden möchte ich mich für die Teilnahme am Interview bedanken, dass unter der Woche stattfand.

Vor den Six Nations ist vor der WM

Wer ist Top-Favorit für die Six Nations?

  • Sven Gabbei: Für mich ist im Moment aufgrund der gezeigten Leistungen im November England der Favorit, die Franzosen haben doch noch sehr an der unterirdischen 2.Halbzeit gegen Australien zu knabbern und müssen sich wahrscheinlich im Turnierverlauf erst finden. Dazu kommen die Auswärtsspiele in England und Irland und bei den schwierig zu spielenden Italienern. Die Iren und speziell die Waliser haben viele Verletzte zu beklagen und nicht die nötige “Tiefe” im Kader um ein Wörtchen bei der Titelvergabe mitzureden. Eine Überraschung könnte dieses Jahr am ehesten den Schotten gelingen und die Italiener werden das ein oder andere Spiel zu Hause knapp gestalten oder gewinnen.

Die Six Nations sind dieses Jahr so offen wie seit langem nicht. England auf dem aufsteigenden Ast, Wales mit negativer Tendenz und Schottland und Frankreich als Überraschungseier. Mit größerem Abstand folgt Irland und dann ganz weit hinten Italien.

Die Tendenzen wurden bei den Trips im Sommer und bei den Länderspielserien zuhause im Spätherbst in den Vergleichen gegen die Mannschaften aus der Südhalbkugel gesetzt.
Für die Intensität der Six Nations sorgt der kleine Spielplan: sechs Mannschaften, fünf Spieltage mit je drei Spielen und Mitte März steht der neue Champion fest. Bereits nach dem ersten Spieltag haben drei Teams alle Hände voll zu tun, das negative Momentum zu bekämpfen.

Wird Wales – England am Freitag schon das weitere Six Nations-Schicksal beider Mannschaften besiegeln?

  • Andreas Renner: Na ja, wer gleich mal verliert gibt zumindest schon mal die Initiative aus der Hand und ist auf fremde Hilfe angewiesen. Und die Waliser waren in den vergangenen Jahren immer dann gut, wenn sie im ersten Spiel England geschlagen hatten.
  • Sven Gabbei: Das erste Spiel ist immer enorm wichtig. Die Engländer könnten hier den Grundstein für den Turniersieg legen. Für die Waliser geht es gleich am Anfang schon ums Überleben.

Die Konstellation will es, dass alle drei Spiele des ersten Spieltages tricky sind. Favorit England muss nach Wales fahren. Die walisische Rugby-Nationalmannschaft ist der große Stolz der kleinen, armen britischen Region an der Westküste. Für meinen Geschmack ist nirgendwo mehr Pathos bei den Six Nations anzutreffen, als in einem ausverkauften Millenium Stadium vor 74.500 Zuschauer, in dem vorerst letzten Freitagsspiel der Six Nations. Die BBC, France 2 und SPORT1+ (plus sport1.de-Bezahlstream) übertragen.

Irland muss nach Italien. Irland geht als wackelnde Mannschaft ins Turnier und Italiens raison d’être in den Six Nations besteht darin Schottland oder Irland ein Bein zu stellen. Irland und Italien treffen auch bei der WM-Gruppenphase aufeinander (Sa 15h30, Übertragungen bei der BBC, SPORT1, France 2 plus sport1.de-Bezahlstream)

Frankreich, schwer verunsichert nach Rekordniederlage vor heimischer Kulisse, spielt zuhause gegen den Joker des diesjährigen Turniers Schottland. (Sa 18h00, Übertragungen bei der BBC, SPORT1+, France 2 plus sport1.de-Bezahlstream)

Frankreich

Titelverteidiger der Six Nations ist Frankreich, die letzte Saison per Grand Slam gewonnen haben – also in allen fünf Spielen siegreich. Für die aktuelle Situation ist aber ein ganz anderes Spiel prägend gewesen: die 16:59-Heimniederlage im letzten Länderspiel, Ende November in Paris. Die höchste Heimniederlage. Wohlgemerkt: trotz 16:13-Führung kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit. Der Kollaps der französischen Mannschaft in den restlichen 35 Minuten hat sich in die französische Nation eingebrannt.

Wie groß ist die Gefahr, dass Lievremont mit seinen Aktionismus den Bogen überspannt. Das Mißtrauen in Medien und bei Veteranen wie Chabal scheint immer noch da zu sein.

  • Andreas Renner: Das Mißtrauen der Medien kommt doch vor allem von seiner Dauerrotation, die er ja nun im WM Jahr beenden will. Chabal würde sicher gerne mehr spielen, aber da sollte man nicht vergessen, dass er vielleicht optisch der ideale Rugbyspieler, auf dem Platz aber nicht unumstritten ist. 
  • Sven Gabbei: Lievremont hat in seiner Amtszeit unglaublich viel ausprobiert und mußte dafür sehr viel Kritik einstecken. Bezüglich der WM hat das natürlich den Kandidatenkreis erweitert.
    Auffällig war jedoch, dass der Turniersieg letztes Jahr erst dadurch zustande kam, als Kontinuität in die 1.XV kam. Es hatte den Anschein, das das Team durch die strikten Vorgaben etwas gebremst agierte. Welcher Spieler mehr oder immer spielen möchte kann Lievremont egal sein, das Gesamtpaket muss ausgeglichen sein und stimmen.

Das Projekt Marc Lievremont wurde hinterfragt. 42 Jahre alt, 2007 als Nationaltrainer verpflichtet worden, der die Jugend hochbringen sollte und vom zynischen Spielstils seines Vorgängers Bernard Laporte wieder weg zu einem ästhetischen Offensiv-Rugby finden sollte. Lievremont ist jemand, der mich an Tuchel und Rangnick erinnert, die immer sehr proaktiv ins Spiel eingreifen wollen. Es wird ausprobiert, es wird durchrotiert, für jeden Gegner das passende Deckelchen gesucht und das ganze soll auch noch den gehobenen ästhetischen Ansprüchen des Rugby-Spiels genügen.

Die französischen Rugby-Nationalmannschaften stehen eh seit Jahrzehnten im Ruf launische Diven zu sein. Die steten Spielerwechsel von Lievremont verstärken diesen Eindruck. Altinternationale kritisieren, dass Lievremonts Taktiken inzwischen verbraucht seien und die Gegner das französische Spiel zu leicht lesen können.

Lievremont ist nach der Niederlage Ende November schwer ins Grübeln geraten und hat, glaubt man den Medien, einiges verändert. Er hat die Kommunikation nach innen und außen “zentralisiert” und delegiert weniger an seine Assistenten. Er gibt direktere und prägnantere Anweisungen und bemüht sich den Spielern seine Spielidee (“le projet du jeu“) zu verdeutlichen. Mehr Tempo, mehr schnelle Gegenangriffe, mehr Spiel über die Flügel. Lievremont hat die Eier und stellt sich nach ganz vorne, um deutlich zu machen, dass dies seine Mannschaft, sein Projekt und seine Spielweise ist. Das ist gegenüber seinen Spielern autoritär wie auch schützend zu gleich. Wenn man so will, ist es der Wandel von einem Tuchel/Rangnick zu einem Van Gaal (filed under “Hinkender Vergleich #1”).

Rugby-Spielpositionen

Die Trikotsnummern #1 bis #15 sind fest nach Spielpositionen vergeben. Einfach gesagt: je höher die Nummer, desto weiter hinten. Die Nummern #1 bis #8 sind in den Gedränge/Scrums involviert, #9 und #10 eine Art “Spielgestalter” und #11 bis #15 versuchen mit schnellen Läufen oder Passstaffetten den Ball nach vorne zu bringen. Mehr in der Wikipedia.

An seinen Nukleus hält Lievremont weiterhin fest. Die #9 Morgan Para und #10 François Trinh-Duc sind zwar blutjung an Jahren (22 bzw 24 Jahre), haben aber dank Lievremont inzwischen schon je 22 Länderspiele. Die Positionen #9 und #10 sind im Rugby die zentralen Ballverteiler – um einen hinkenden Football-Vergleich zu bemühen: Quarterbacks.

Die umstrittenste Personalie im Vorfeld war die Aufstellung von Damien Traille auf der #15, also als einer Art “letzter Mann”, der häufig die langen Kicks fängt und entweder zwecks Spielverlagerung selber zurück kickt oder per langen Läufe Angriffe einleitet. Traille hat auf der #15 keinen unumstrittenen Ruf und gilt als jemand der auf der #10 oder #12, also wesentlich näher am Spielaufbau, besser aufgestellt ist.

Wie wichtig ist nach der Niederlage gg Australien das Auftaktspiel gegen Schottland?

  • Andreas Renner: Wichtig. Trotzdem sollten wir nicht vergessen, dass in dieser Saison die WM alles überstrahlt. Aber auch im Hinblick darauf müssen die Franzosen wieder besser spielen als zuletzt.
  • Sven Gabbei: Spielerisch (besonders in der Offensive) haben mich die Franzosen trotz des “Grand Chelem” letztes Jahr nicht überzeugt und es scheint Differenzen zwischen dem Trainerteam, dem Kapitän und der Mannschaft zu geben. Also bleibt es abzuwarten welche französische Mannschaft sich dieses Jahr zeigt.

Irland

Kann das Aviva Stadium zum Problem werden und Irland Heimspiele kosten?

  • Sven Gabbei: Die Preispolitik und die feste Sitzvergabe war das Hauptproblem im November. Früher musste man zwei Stunden vor Spielbeginn im Croke Park sein um einen guten Sitz zu ergattern und die Stimmung war dementsprechend. Die Preise sollen jetzt angepasst werden und dann ist das Aviva Stadium auch wieder angemessen gefüllt. Das wird also für jede Gastmannschaft ein ganz schwerer Gang.

Der zweite der letztjährigen Six Nations und der Sieger der 2009er-Ausgabe spielt dieses Jahr erstmals Six Nations im neuen Aviva-Stadion. Das 51.700 Zuschauer fassende Stadion wurde von der irischen Nationalmannschaft im November eingeweiht, aber die Ticketpreis und Vergabepolitik plus die enormen wirtschaftlichen Probleme Irlands und die schlechten Resultate im Sommer sorgten für leere Sitzplätze (35.500 Zuschauer gegen Südafrika) und schlechte Stimmung. Der im Rugby als so wichtig empfundene Heimvorteil ist für Irland damit zu einem unsicheren Faktor geworden und den Heimvorteil braucht Irland diese Saison, da mit England und Frankreich zwei schwere Gegner nach Dublin kommen.

Kopfzerbrechen bereitet Trainer Declan Kidney aber auch die Mannschaft. Die Mannschaft gilt als überaltet und durch Verletzungen angeschlagen. Kidney bekommt keine Konstanz ins Team. Stimmt die kolportierten Aufstellung, wird Kidney in Italien nur noch mit 3 Spieler aus der 15 Köpfe umfassenden Startmannschaft des letztjährigen Spiels gegen Italien starten.

Declan Kidney steckt in einem Konflikt: soll und kann er so kurz vor der WM noch einen Generationswechsel durchführen?

Irland geht mit vielen Verletzungen und einem Umbruch in die Six Nations. Wieviel WM-Irland steckt schon im Six Nations-Irland?

  • Andreas Renner: Am Anfang eher weniger, weil sie aus Verletzungsgründen Löcher stopfen müssen.
  • Sven Gabbei: Man darf die Iren nie abschreiben, aber dieses Team ist über dem Zenit und neue Weltklassespieler sind im Moment in Irland leider sehr rar.

England

England geht unisono als Favorit ins Turnier. Dies ist eine überraschende Wende, wenn man an die ersten zwei Jahre von Trainer Martin Johnson zurückdenkt, als er dem englischen Spiel kaum positive Impulse geben konnte und sein ausgezeichneter Ruf als legendärer Rugbyspieler aufbrauchte.

Die ersten englischen Lebenszeichen kamen zum Ende der Six Nations 2010 per knapper Niederlage in Frankreich. Es folgten im Sommer und Herbst zwei Siege gegen Australien (21:20 in Sydney, 35:18 in Twickenham) und ein Spiel gegen Neuseeland wo man mithalten konnte (16:26). Martin Johnson konnte seine Bilanz auf 11-13-1 verbessern und wichtiger: Spieler und Fans glauben an die Mannschaft.

Hat Johnson wirklich plötzlich einen Plan im Kopf und kann er ihn dieses Jahr weiterentwickeln? Gibt es wie einst bei Klinsmann, einen Mann dahinter oder daneben (Löw), der eigentlich der taktische Mastermind ist?

  • Andreas Renner: Im WM-Jahr regiert üblicherweise die Vorsicht. Mal sehen, wie dynamisch das jetzt und im Herbst tatsächlich sein wird.
  • Sven Gabbei: Martin Johnson scheitert in England höchstens an dem hohen Anspruch der Öffentlichkeit. Er ist ein absoluter Fachmann und Leader, dem für einen Umbruch sehr wenig Zeit gegeben wurde und der dadurch etwas vorsichtiger mit neuen Spielern war. Unter ihm sind jedoch Spieler wie Youngs, Lawes, Ashton, Hartley, Foden und viele weitere zu Weltklasse Spielern gereift.

Hinter diesen positiven Spielen steckt ein kleinerer Generationswechsel: #9 Ben Youngs (21 Jahre, 7 Länderspiele), hinten #14 Chris Ashton (23 Jahre, 7 Länderspiele) und #15 Ben Foden (25 Jahre, 10 Länderspiele) und vorne #2 Dylan Hartley (24 Jahre, 23 Länderspiele). Die Scharniere #9 Youngs und #10 Flood (25 Jahre, 35 Länderspiele) harmoniert recht gut. Die jungen Kräfte in der Hintermannschaft haben dem englischen Spiel mehr Tempo und Dynamik gegeben.

Dieses junge Team geht heute mit dem Auswärtsspiel in Cardiff einen ganz schweren Gang. Gewinnen sie die Partie, wird dies enormes Momentum für das WM-Jahr erzeugen.

Wie solide ist dieses Scharnier Youngs und Flood?

  • Sven Gabbei: Flood ist der einzig nennenswerte Ersatz zu Johnny Wilkinson und in den letzten Jahren auf dieser Position gereift. Für einen Gedrängehalb-Spieler ist Frechheit, Schnelligkeit und Leidenschaft mindestens genauso wichtig wie Erfahrung. Youngs hat da ein enormes Potential.

Wales

Der Neuseeländer Warren Gatland übernahm eine am Boden liegende, walische Mannschaft. 2007 bei den Six Nations von Italien geschlagen und auf Platz 5 verendet, bei der WM 2007 in der Gruppenphase gegen Fiji den zweiten Platz verloren und vorzeitig ausgeschieden. Gatland kam nach der WM im November 2007. Vier Monate später holte Wales bei den Six Nations den Grand Slam.

Wales hat zwar seitdem bei den Six Nations nie mehr als drei Spiele gewonnen, aber Gatland und Wales saugen immer noch Nahrung aus diesem Erlebnis von 2008.

Wie wird Wales die Six Nations mit seinen geschwächten Scrums umgehen?

  • Sven Gabbei: Wales hat eine der stärksten 1.Reihe Formationen, die es im Moment im Welt-Rugby gibt. Leider ist diese Formation komplett verletzt. Gatland muss sich warscheinlich darüber Gedanken machen das Spiel noch schneller zu machen und die Standardsituationen möglichst unbeschadet zu überstehen.

Gatland ist einer jener Coaches die im Vorfeld am lautesten davon geredet haben, dass die Six Nations gegenüber der WM im Hintergrund treten. Gatland dürfte ahnen, dass auch diese Six Nations nicht viel zu holen sind. Die Mannschaft ist von Verletzungen massakriert worden. Der Kader ist zu alt und zu dünn um die zahlreichen Verletzungen kompensieren zu können. Durch die Ausfälle von Jenkins und Jones ist Wales’ große Stärke, die Scrums/Gedränge geschwächt worden.

Die erste Partie am heutigen Freitag ist von Gatland ein bißchen aufgejazzt worden, weil er in einem Interview ein bißchen Trash Talking gegen Englands #2 Dylan Hartley betrieb und Hartley vorwarf, allzeit zum Kurzschluss bereit zu sein. Das dürfte heute abend wohl ausgetestet werden.

Coach Gatland hat per “Trash Talking” Nebenkriegsschauplätze eröffnet und die Bedeutung der Six Nations im Vergleich zur WM dieses Jahr klein geredet hat. Vorahnung auf ein schlechtes Abschneiden, auch bedingt durch die Verletzungen?

  • Andreas Renner: Ich denke, es ist einfach nur realistisch, dass die Six Nations im WM-Jahr eine eingeschränkte Bedeutung haben.
  • Sven Gabbei: Ich denke genau das ist der Punkt. Er hat es aber auch nicht leicht mit den enormen Verletzungssorgen.

Schottland

Schottland ist bei mir in den letzten 12 Monaten komplett unter dem Radar geflogen und taucht nun in der öffentlichen Wahrnehmung plötzlich als großer Joker für den Six Nations-Titel auf.

Hier meine Skepsis gegenüber den Lobpreisungen: Schottland lieferte sich die letzten Jahre maximal mit Italien einen Wettbewerb um den Wooden Spoon (“Holzlöffel”, den letzten Platz bei den Six Nations). In den letzten acht Jahren gewann Schottland in den Six Nations nur ein Auswärtsspiel woanders als in Italien. Sie wurden im November von Neuseeland 3:49 auseinandergenommen und konnten zuhause nur 19:16 gegen Samoa gewinnen. Dem gegenüber steht immerhin ein Heimsieg gegen Südafrika. Die Schotten sind häufig nahe dran und halten die Spiele eng. Aber können sie den letzten Schritt machen und diese engen Spiele endlich auch für sich entscheiden?

Was bleibt, ist eine frappierende Offensivschwäche. Sie bekommen kaum Versuche gelegt (7 Versuche in den letzten 13 Spielen) und erzielen die meisten Punkte per Strafkicks oder Dropkicks.

Gegen Schottland spricht außerdem ein schwerer Spielplan: auswärts in Frankreich und England.

Hat Coach Andy Robinson die schottische Mannschaft bereits aus dem Keller geführt oder was fehlt der Mannschaft noch?

  • Andreas Renner: Robinson hat in seiner Amtszeit eine gute Bilanz. In den letzten Jahren war das alles in der Offensive eher hausbacken. Das Problem müssen sie lösen.
  • Sven Gabbei: Schottland fehlen die Weltklasse-Einzelspieler. Als Team sind sie sehr homogen und können an einem guten Tag jedes Team der Welt ausser NZ schlagen. Besonders die 3.Reihe ist Weltklasse. Auf den anderen Positionen sind sie eher durchschnittlich besetzt. Dan Parks ist ein absolut treffsicherer Verbinder und kann die Mannschaft auf Kurs halten.

Wären die Schotten in der Lage, sich von einer Klatsche am Samstag in Frankreich zu erholen?

  • Andreas Renner: Eine Niederlage in Frankreich wäre keine Überraschung. Problematisch wird es, wenn es zu deutlich wird.
  • Sven Gabbei: Welche Klatsche?! Ich glaube den Schotten kommt dieses Spiel sehr gelegen. Sie haben nichts zu verlieren und können mit einem guten 1. Spiel den Grundstein für ein gutes Turnier legen.

Italien

Italiens Profil wird immer noch dadurch geprägt, dass es in der europäischen Szene den Nachzügler gibt. 2000 wurden die Five Nations auf sechs Mannschaften erweitert um Italien aufzunehmen, aber seit dem hat Italien nie mehr als zwei Siege in einer Saison geschafft. Die Bilanz von Italien: 55 Spiele, 7 Siege, 47 Niederlagen.

Mit den Entwicklungen dieses Jahr: wieviele Jahre ist Italien noch davon entfernt, dass zwei Siege bei den Six Nations nicht mehr als Sensation gefeiert werden?

  • Andreas Renner: Im Moment habe ich den Eindruck, dass der Abstand eher wieder größer wird. Und die Problemzone ist ja bekannt: die 9 und die 10. Aber auf den Positionen spielen ja auch in den Klubs fast keine Italiener. 
  • Sven Gabbei: Vielleicht wenn sie mal 5 Heimspiele haben? Nein, im Ernst. Ich denke das der Abstand zur Elite eher größer wird. Trotzdem können die Italiener auch mal 2 Spiele im Turnier gewinnen, eine Sensation wird es trotzdem immer bleiben.

Die Saison 2010/11 stellt einen Einschnitt dar. Die Magners League in Schottland, Wales und Irland wurde um zwei Profiteams aus Italien erweitert und man hofft auf eine Belebung der italienische Nachwuchsarbeit. Nach der WM im Herbst wird das südafrikanische George Clooney-Double Nick Mallett vermutlich seinen Posten als Nationaltrainer niederlegen und nach vier Jahren wird es auf diesem Posten neue Impulse für Italien geben.

Kurzfristig wird sich aber nichts daran ändern, dass im italienischen Kader nur wenig individuelle Klasse da ist und man am ehesten beim Power-Rugby mit vielen Scrums und Gedränge mithalten kann – vor allem wenn man zuhause spielt, ist man immer wieder in der Lage den Favoriten ein Bein zu stellen.

Neben den altbekannten Stärken wird der Scrum-Half #9 Edoardo Gori in britischen Medien als Geheimtipp gehandelt: ein 20 Jahre alter Spieler der für Treviso in der Magners League spielt und nur zwei Einsätze in der italienischen Nationalmannschaft hat, weswegen er noch eine sehr unbekannte Nummer ist.

Wie schnell kann der neue, junge Gedränge-Halb Edoardo Gori zu einem Faktor auf der internationalen Bühne werden?

  • Sven Gabbei: Ich sehe im Moment ausser #8 Sergio Parisse und die gewohnt für Weltklasse angesehene 1.Reihe keinen italienischen Spieler auf Weltklasse-Niveau.

Wieviele Siege wird Italien dieses Jahr rausholen? Wird es für einen Auswärtssieg reichen?

  • Andreas Renner: In Schottland vielleicht, Wales hat man daheim. Aber mehr als einen Sieg sehe ich nicht.
  • Sven Gabbei: Gegen die Schotten haben die Italiener bisher immer ihre besten Spiele gezeigt. Diese Jahr wird es jedoch maximal zu einem Sieg gegen Wales reichen.

Rugby anderswo

Neben der Six Nations beginnt an diesem Wochenende auch die Saison im European Nations Cup, Division 1A mit den Mannschaften Georgien, Russland, Rumänien, Portugal, Spanien und Ukraine. Dabei handelt es sich um eine Art “Zweite Liga” des Rugbys (allerdings ohne Aufstieg Richtung Six Nations).

Darunter spielt die Division 1B – wenn man so will: Dritte Liga. Zwischen Div 1A und 1B gibt es einen Aufstiegs- bzw. Abstiegsplatz und letztes Jahr erwischte es leider die deutsche Nationalmannschaft, die mit null Siegen aus zehn Spielen aus der 1A in die 1B absteigen musste.

Aus Sicht der Rugby-WM sind diese Divisionen insofern relevant, weil sich die beiden Bestplatzierten der 1A für die WM qualifizieren und der Dritte der 1A gegen den Divisionssieger der 1B Playoffs um einen WM-Platz ausspielten. Wie die genaue Regelung für die WM 2015 aussieht, ist noch nicht bekannt, zumal im europäischen Rugby auch die Divisionen neu strukturiert wurden.

Für die WM 2011 haben sich Georgien, Russland und als Sieger aus den Playoffs Rumänien (gegen die Ukraine) qualifiziert. Russland ist WM-Neuling. Georgien hätte bei der WM 2007 Irland fast stolpern lassen und Rumänien war gegen Italien fast dran. Wenn der Gegner aber Neuseeland heißt, wird man auch schon mal 108:13 verprügelt (Portugal).

Kann einer der Qualifikanten für die WM – Georgien, Rumänien oder Russland – bei der WM zum Stolperstein werden?

  • Sven Gabbei: Georgien war gegen Irland ja schon mal knapp davor. Aber in der Konstellation mit Argentinien, Schottland und England in einer Gruppe haben sie keine Chance auf das 1/4-Finale. Rumänien wird wie Russland Kanonenfutter sein.

Wie kommt es, dass Russland auf europäischer Ebene so gut mithalten kann, obwohl es z.B. anders als Georgien, kaum Spieler in den europäischen Profiligen hat.

  • Sven Gabbei: Es gibt in Russland eine Profiliga und sehr viel Engagement. Es bleibt nur eine Frage der Zeit, bis diese Spieler in die europäischen Ligen wechseln. Natürlich nur wenn der finanzielle oder sportliche Anreiz höher als in Russland ist.

Richtiggehend frustriert klingen Andreas Renner und Sven Gabbei, wenn die Sprache auf das deutsche Rugby kommt. Der Abstieg in die Division 1B scheint nicht unerwartet gekommen zu sein.

Gibt es ein positives Momentum bei der deutschen Nationalmannschaft das auf einen Aufstieg und Etablierung in der Division 1A hoffen lässt, um irgendwann auf Augenhöhe von Rumänien und Portugal zu sein?

  • Andreas Renner: Aus der Ferne: der Trend geht eher nach unten.
  • Sven Gabbei: Aus der Nähe: der Trend nach unten ist absolut unaufhaltsam.

Im Rückblick auf das WM-Jahr 2007 und den damaligen Übertragungen im DSF: hat diese TV-Präsenz dem deutschen Rugby ein größeres Interesse der Öffentlichkeit gebracht?

  • Andreas Renner: Kurzfristig ja. Aber alle Pläne des DRV, daran anzuknüpfen sind im Sand verlaufen, weil der Verband kein Geld und keine Sponsoren hat.So waren z.B. Übertragungen von allen deutschen Heimspielen in 1A geplant und nichts davon hat funktioniert. Im Gegenteil: bei eventuellen Fernsehpartnern hat sich der DRV total blamiert. Viel angekündigt, nix gehalten.
  • Sven Gabbei: Der DRV hat diese Vermarktungschance nie genutzt und ist leider selbst für einen Amateurverband viel zu amateurhaft. Das Interesse der deutschen Öffentlichkeit für diesen fantastischen Sport hält sich leider immer noch unangemessen stark in Grenzen.

Gibt es in der Nationalmannschaft oder bei den Junioren Spieler, die das Zeug haben, eines Tages in den europäischen Profiligen zu spielen?

  • Sven Gabbei: Nein. Ich hoffe auf Ausnahmen.

Der Schwipsschwager in den USA, mit den bunten Pompons und dem Konfetti…

Wenn ich schon die Chance habe, kann ich so ein Interview nicht machen, ohne auf die Super Bowl vom Wochenende zu kommen.

Sven: Hast du irgendwelche Empathie für den anderen Eier-Mannschaftssport American Football und traust du dir einen Tipp zu?

  • Sven Gabbei: Du wirst lachen. Ich war 1997/1998 ein Jahr als Austausch-Schüler in Wisconsin, die Heimat der Green Bay Packers und habe damals als Kicker und Wide-Receiver ein Stipendium für die UW Madison angeboten bekommen, mich aber dafür entschieden lieber mein Abi in Deutschland fertig zu machen. GO PACKERS!!!

Für mich liegt der Schlüssel wieweit Green Bay sein Pass-Spiel wird etablieren können. Wer wird das Duell gewinnen: Dick LeBeau oder QB Aaron Rodgers?

  • Andreas Renner: Ich glaube, das gilt umgekehrt auch für Pittsburgh. Beide haben starke Verteidigungen, gute Receiver und Quarterbacks. Für mich liegt der Schlüssel in der Schwäche beider Teams: Offensive Line/Laufspiel. Wer besser läuft ist ganz weit vorne. Können beide nicht laufen, dann bleibt die Frage, welcher QB weniger Fehler macht.
  • Sven Gabbei: Es ist halt auch ein Endspiel, aber vielleicht hat Green Bay das bessere Momentum mit den Auswärtssiegen in den Play-Offs. Offense wins games, Defense wins Championships. GO CHEESEHEADS!!!

Viel Spaß, geht’s schauen.

Six Nations auf SPORT1 im Free-TV (zumindest einige Spiele), auf SPORT1+, per Bezahlstream auf sport1.de und in den Nachbarländern wie Frankreich (France 2/3) und Großbritannien (BBC)

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Ich hab keine Ahnung vom Rugby, habe mir aber den Post mal durchgelesen. Werde sicher mal reinschauen in irgendein Spiel. Vielleicht ist es ja was.

  3. Wow… ich hab’s bisher nur teilweise überflogen, aber: wow! Respekt für Umfang und auch Tiefgang dieser Vorschau.

    Ich habe durchaus Sympathien für Rugby (-Union), aber gerade dieser Sport macht mir eigentlich nur mit englischem Kommentar Spaß. Blöd, dass ich weder BBC noch Sport1+ empfange. France 2/3 dagegen bekomme ich, vielleicht mache ich dann doch mal den Versuch mit Rugby à la francaise…

  4. und du beschwerst dich gefälligst nicht nochmal, daß du den super bowl nicht gucken kannst, dogfood. anscheinend schläfst du doch eh nicht.

  5. Dieser sehr lange Eintrag zu Rugby, da frag ich mich doch, ob dogfood auch die anstehende Cricket-WM begleiten wird. Wird er?

  6. Kommt drauf an, was wo im TV zu sehen oder im Radio zu hören ist. EURO2 hatte zumindest mal Übertragungen geplant gehabt. Aktuell habe ich mich aber noch nicht drum gekümmert was z.B. auf BBC 5live zu hören sein wird.

    Eine größere Vorschau wird es aber dazu nicht geben, weil es bei mir abseits von England und Australien zu schnell, zu dünn wird. Test-Cricket habe ich erst mit dieser Ashes-Serie wirklich angefangen zu verfolgen.

  7. Grandios, besten Dank! Schaue gerne mal beim Rugby rein, allerdings fehlt mir immer ein wenig Hintergrundwissen über die Teams und die Taktiken. Das hier wird die Lücke hoffentlich etwas schließen :)

    Was mir in dem Zusammenhang aufgefallen ist: Eine optimierte Druckversion der Einträge gibt es nicht? Die Druckfunktion selbst liefert ja immer nur eher unbefriedigende Ergebnisse.

  8. Super, vielen Dank für diese tolle Vorschau. Seit ich vor Jahren mal ganz zufällig in ein Spiel der 6Natiolns reingezappt habe, bin ich der absolute Rugby-Fan geworden.
    Ich hatte schon bei sportdigital.de angefragt, ob die wieder Live-Übertragungen haben. Darauf habe ich eine komische Antwort erhalten …

    Jetzt weiß ich, dank deines Hinweises, dass die 6N bei sport1.de übertragen werden und habe mir sofort das Abo für alle 15 Spiele gekauft!

    Die nächsten Wochenenden sind also gerettet!

  9. fantastisch. ich bin echt geplättet. wenn ich nochmal auf die welt komme, möchte ich so werden wie du, dogfood.

  10. @#9: Tipp: copy’n’paste in eine Textverarbeitung Deiner Wahl.

    Ansonsten hätte ich auch noch einen Tipp für Mobilnetzsticks.

  11. Hm, finde Rugby ein sehr unästhetisches Spiel (dieses ständige Gewälze und Übereinander liegen). Und es scheint mir so als ob es den britischen Teams plus Irland, Frankreich reicht unter sich zu bleiben.

  12. @Eisbrecher: International noch Neuseeland, Australien, Südafrika und Argentinien zu beachten.

  13. So, in Ermangelung eines Hamburger Fußball-Derbys hab ich mir nun gerade auf Sport1+ das Spiel Italien – Irland angeschaut.

    Wenig Punkte und lange Zeit wohl von eher schwachem Niveau,
    aber ein Italien mit großem Kämpferherzen, dass den Iren das Leben sehr schwer machte. Sie hätten es sogar gewinnen müssen, als 3 Minuten vor Schluß ein Versuch zur Führung gelegt werden kann. Der Erhöhungstritt geht dann aber haarscharf daneben und im direkten Gegenzug erzielt Irland dann ein Goal aus dem Feld unfd damit den Kopf aus der Schlinge.

    Diese letzten 5 Minuten waren schon sehr dramatisch.