Tour-Tag 16: Alle böse.

Auch das Einzelzeitfahren am 16ten Tag der Tour konnte ich nur via (französischem) Radio verfolgen, also mea culpa, sollte einige Details nicht stimmen.

Das Einzelzeitfahren war mit knapp 900.000 Zuschauer entlang der 15km ein Riesenspektakel und vermutlich “too much”. Auffällig war, dass danach jeder irgendwie sauer war.

Alle sind sauer über Lance Armstrong, der, den Rundfunkreportern zufolge, von den Organisatoren bevorzugte Behandlung bekommen hat und als einziger über eine Motorrad-Karawane verfügte, die ihm den Weg durch die Zuschauermassen freischaufelten.

Lance Armstrong ist sauer. Denn der deutsche Fan hat sein häßliches Gesicht gezeigt und sich indiskutabel benommen: Transparente wie “Fuck Armstrong”, verbale Beschimpfungen und wilde Grimassen geschnitten. Es ist der “Michael-Schumacher-Effekt“, wenn tumbe Deutsche, angelockt durch Hype, Medien und Werbung, plötzlich eine Sportart für sich entdecken. besser: nicht eine Sportart, aber “ihren” Sportler. Diesen plötzlich ausbrechenden Fanatismus sieht man in dieser Qualität und Quantität sonst nirgends. Chauvinismus, im Sinne des “Anfeuerns” eigener Leute, ja. Aber Chauvinismus zeigen, durch Runtermachen von “Gegnern”? Spontan fallen mir neben den Deutschen nur die Engländer ein.

Richtig böse hat es Jens Voigt erwischt, der vorgestern als CSC-Fahrer seinen Job getan hat und Basso und Armstrong an Ullrich heranfuhr. Etwas was nirgends außer in Deutschland besondere Beachtung gefunden hat, da die Tour keine “Nationen-Veranstaltung” ist. Voigt musste sich gestern wüsteste Beschimpfungen über sich ergehen lassen und führt dieses auf Kommentare von den ARD-Reportern Watterott und Boßdorf zurück. Ich habe die Kommentare nicht gehört, vielleicht kann jemand in den Kommentaren schildern was die beiden am Dienstag gesagt haben.

Voigt sprach diesen Punkt auch in einem Interview mit dem ZDF an und bekam dafür, laut SPIEGEL Online, mitten im Interview das Wort abgeschnitten und wurde ausgeblendet.

Auch Jan Ullrich hat gestern seine liebe Mühe gehabt, wurde mehrmals durch schwachsinnige Fans aus dem Tritt gebracht, die ihm wohlwollend einen Klaps oder Schubser geben wollten.

Und das Ergebnis? Am Ende des Tages kam wieder eine unappetitlich anmutende Dominanz von Armstrong heraus, der auf 15km und 40Minuten Gesamtzeit, Jan Ullrich 1Minute abnahm.

Diese Dominanz von Armstrong hinterläßt mich ratlos. Ich bin angesichts der Indizien und Aussagen von Kollegen felsenfest davon überzeugt, das Armstrong gedopt war. Es gilt immer noch die Unschuldsvermutung, aber diese Dominanz macht es mir verdammt schwer an einen sauberen Armstrong zu glauben. Eine Haltung die von den Amis überhaupt nicht verstanden wird, exemplarisch an einem Beitrag bei FM4 zu sehen: “What if he hasn’t been doping?“.

Und wenn es so wäre, und Armstrong wäre sauber, dann hätten wir in der Tat vielleicht einen der größten Sportler des Jahrzehnts nie entsprechend gewürdigt.

Die Dominanz von Armstrong hat ihre zwei Seiten, die eben nicht nur aus der Stärke von Armstrong, sondern auch in der Schwäche seiner Gegner besteht.

Über die mangelnde Aggressivität Ullrichs habe ich mich hinreichend ausgelassen, für mich ist die heutige Etappe der “Lackmus-Test”. Wenn er heute Willens ist, etwas von den 5 Minuten Rückstand auf Basso wegzukratzen, dann gibt es in den nächsten Jahren noch Hoffnung für den Fall “Ullrich”. Die Zeitungen melden, dass Ullrich in der ersten Tour-Woche massiv gegen eine Erkältung zu kämpfen hatte und mit Antibiotika behandelt wurde. Hmmm. Das könnte einerseits die Schwäche erklären, aber, if my memory serves well, hat Ullrich bislang bei jeder Tour mit grippalen Infekten zu kämpfen gehabt.

Neben Ullrich gibt es derzeit nur Basso und mit Abstrichen auch Klöden, den man attestieren kann, komplett genug zu sein, um Armstrong anzugreifen. Beide Teams CSC und T-Mobile führen die Mannschaftswertung an.

Aber keines der beiden Team war mit der Dominanz, da ist es wieder, dieses Wort, bei den entscheidenden Etappen vorne, wie sie US Postal hatte. US Postal hat sich komplett Armstrong unterstellt, US Postal hatte in den Bergetappen fünf bis sieben Mann in der Spitzengruppe. CSC und T-Mobile selten mehr als drei.

Man kann also gucken wohin man will: der unbedingte Wille zum Toursieg, sowohl individuell bei den Fahrern, als auch bei der Mannschaft, den hat nur US Postal entwickelt. Es hat etwas roboterhaftes.

Nein, sorry, ich kann der diesjährigen Tour nicht vieles abgewinnen.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Also was die Karawane anbelangt: soweit ich das mitbekommen habe, wurden zumindest alle Top 10 Fahrer von einem (oder zwei?) Motorrädern begleitet. Also keine Sonderbehandlung für Armstrong, soweit ich das bewerten mag.

    Dass man Jens Voigt einfach ausgeblendet hat, halte ich auch für eine Frechheit, aber anscheinend will ARD das Interview heute komplett zeigen (zumindest hat das der Mann von Eurosport gerade behauptet).
    Jens Voigt wollte im Interview eigentlich nicht so deutlich werden und ist die ARD-Kommentatoren erst angegangen, als explizit nochmal nachgefragt wurde.

    Es ist halt immer schade, wenn irgendwelche Fans die Taktik in Sportarten nicht verstehen. Es gibt keinen Grund, Jens Voigt einen Vorworf zu machen, er ist in jedem Fall eine Bereicherung für die Tour und für den deutschen Radsport.

    Die Dominanz von Armstrong lässt den Rest der Tour de France wirklich etwas hoffnungslos erscheinen. Ich will nicht vermuten, dass er dopt. Was man wohl eindeutig behaupten kann ist, dass die Strategie von ihm und seinem Team gegenüber den anderen Favoriten im Moment und in den vergangenen Jahren unerreicht gut gewesen ist. Zusätzlich kommt noch hinzu, dass er ja einen völlig anderen Stil fährt als alle anderen Fahrer.

    Ob das genügt, um eine Minute auf Jan Ullrich zu erklären (der, rechnet man Armstrong raus, ebenfalls sehr dominant war) – ich weiß es nicht und kann es auch nicht bewerten.

  3. http://tour.ard.de/tour2004/tdf/aktuell/aktuell_kw30/voigt_ard.jhtml

    Unter dem Link äußert sich die ARD zu den Vorwürfen um Voigt. Dort sind auch Ausschnitte aus den Kommentaren zu der entsprechenden Etappe zu finden. Wenn ich mich recht erinnere (hab die Etappe live gesehen), haben die ARD-Reporter wirklich nur die Taktik der CSC-Mannschaft kritisiert, nicht aber Voigt im Speziellen. Der Schnitt im ZDF-Interview “soll” ja auf einen Übertragungsfehler zurückgehen. Voigt will sich heute nach der Etappe noch bei der ARD dazu äußern.

  4. Ich sehe grad, dass man auf den Seiten des ZDF (http://tour.zdf.de) das geschnittene Interview mit Voigt online gestellt hat…

  5. Re: US-Postal-Taktik
    Das Beängstigende ist ja: die Taktik ist nicht überraschend. Jeder hat vor den ersten Bergen gesagt: Armstrong wird attackieren, dies habe er jedesmal bis auf 2003 gemacht.

    Und es gab ja Teams, die wirklich recht massiv für die Berge aufgestellt waren: Euskatel und Phonak. Und wo um Gottes Willen, sind die denn gelandet? Bei allem Ärger über CSC und T-Mobile, aber das Debakel der Spanier und Schweizer ist wirklich unerreicht.

    re: Ullrich.
    Yep, Ullrich ist ein sehr spezieller Fahrer, da er als “langer Lulatsch” schnellen Antritten nicht folgen kann und seine Zeit braucht, bis er Tempoverschärfungen folgen kann. Für ihn gibt es nix giftigeres als einen Armstrong mit seinen 100+x Tritten pro Minute.

    Insofern ist aber ein Berg-Zeitfahren für einen Ullrich maßgeschneidert gewesen und ein Ullrich liegt normalerweise pari mit Armstrong bei Zeitfahren (mal etwas besser, mal etwas schlechter). Und da nochmals eine Minute auf den Sack zu bekommen? Scary.

    re: Armstrong
    Ich glaube dass er gedopt war, letztendlich haben mich die Aussagen von LeMond davon überzeugt. Die “Unfehlbarkeit” die Armstrong dieses Jahr an den Tag legt, der sich nicht einen Hauch von Schwäche leistet, spricht eher gegen, als für ihn.

    Er fährt nicht nur bei jeder Bergetappe mit, sondern ist auf dem Podium. Ich kann mich nicht an so etwas erinnern, noch nicht einmal zu Indurains Zeiten, der schon damals nicht unbedingt die stärkste Konkurrenz hatte.

    Ich kann mich von dem Verdacht nicht lösen. Für mich ist eher die Frage: wer fährt da überhaupt noch sauber?

    re: Voigt
    Ich mag diese Sorte von “Ausreißer” a la Jacky Durand sehr gerne. Aber leider ist in Sachen Schlagzeilen die Kombination Ullrich-T-Mobile unschlagbar.

    re: ARD/ZDF
    Yep, beide Anstalten sind am Zurückrudern und versuchen wohl das Ding fair zu lösen. Wobei ich nicht ganz verstehe, was es bei CSC an der Taktik zu kritisieren gab (ich kann mich an einen extremeren Fall erinnern, als Team Telekom mal in den Bergen Vinokourov alleine ausreißen ließ, nur damit der sich später zurückfallen lassen konnte, um Ullrich zu helfen)