Zeilensport: vor Deutschland – Brasilien

Die Fieberkurve steigt. Heute abend das, nein: das Halbfinale im Confed-Cup Deutschland – Brasilien. Wie maßgeschneidert für Jürgen Klinsmann. Er ist einer, der die deutsche Nationalmannschaft mit Power und Begeisterung technische Defizite ausgleichen lassen will.

Das Brasilien-Spiel heute bietet sich als Generalprobe an. Die Zeitungen sind voll mit Vorberichten, die Stimmung nach dem 2:2 gegen Argentinien euphorisch, also nicht unähnlich der Stimmung vor den ersten Spielen bei der WM.

Bislang fehlte es der deutschen Mannschaft selbst bei den guten Spielen, an Konstanz über 90 Minuten durchspielen zu könne. Das Spiel heute könnte so eine Partie sein, bei der die Klinsmann-Jungs willens sind, sich nach neunzig Minuten im Sauerstoffzelt vom Feld tragen zu lassen.

So sehr die BILD immer wieder auslotet wie “böse” sie gegen Klinsmann un Co. agieren kann: solange die Spiele gut bestritten werden, wird die BILD nicht viel machen können. Klinsmann, Löw und Bierhoff versuchen außerdem eine zweite Medienfront aufzubauen und die “Qualitätsmedien” für sich einzubinden. So sind sie denn auch besonders spendabel mit Interviews. Der Vorteil für das Triumpvirat: alerte Spieler die kompatibel mit dem Publikum von SZ, FR und SPIEGEL sind.

Und so geht es heute richtig in die Vollen:
Oliver Bierhoff in einem langen SZ-Interview

Bierhoff: Im Fernsehen kam dieser Tage ein Film über die WM 1974, da gab es einen Vorfall mit Franz Beckenbauer, als er ins Eck gegangen ist und aufgehört hat zu spielen. Er hat richtig das Publikum beschimpft – obwohl sie gegen Australien 3:0 geführt haben. Da hat sich also nicht viel geändert. Aber grundsätzlich finde ich auch, dass man das alles nicht ganz so eng sehen sollte. Und ich mag das auch nicht, wenn es dann immer heißt: ‚Der Deutsche ist so griesgrämig‘. Eins möchte ich aber schon sagen: Wenn man junge Spieler sehen will, dann muss man ihnen Zeit gönnen. Und wenn man aggressives Spiel will, dann muss man das Risiko akzeptieren. Was ich vermisse, das ist konstruktive Kritik mit ein bisschen Schmunzeln und Wohlwollen.
[…]
Und das Dritte ist: Man muss auch bei sachlich-fachlicher Betrachtung die Gegebenheiten und das Erreichte sehen. Wenn man zehn Monate zurückblickt, hieß es: ‚Es gibt keine jungen Spieler. Die Mannschaft hat keine Identität.‘ Aber das haben wir geschafft. Jetzt kommen die Spieler, obwohl sie Urlaub haben. Christian Wörns war da, Sebastian Kehl hat uns besucht, Moritz Volz kommt zum Spiel gegen Brasilien. Das sind doch gute Zeichen. Man merkt das auch am Publikum: Es ist nicht unbedingt dieses Gefühl ‚Wir sind wieder wer‘, aber eine Freude, dass sich was bewegt.

Dazu passend eine sehr flotte Analyse über Jürgen Klinsmann in der FR: “Der Mensch, der glücklich macht

Klinsmann führt ein Leben im Schnellvorlauf. Tempo ist sein Schlüsselwort. Hohes Tempo. So war er schon auf dem Fußballplatz, erst recht, als er sein bestes Spiel machte. Rot für den spuckenden Rijkaard und auch für Völler im WM-Achtelfinale 1990 von Mailand gegen die Niederlande. Als Völler weg war, gab es Raum für Klinsmann. Den hat er wie aufgedreht genutzt. So wie jetzt wieder.

Er treibt unermüdlich an. Er macht Druck.Von hier oder von Übersee. Er packt sich die Tage randvoll mit Terminen und arbeitet jeden einzelnen gründlich ab. Gespräche mit Spielern führt er zielführend. Selten länger als zehn, 20 Minuten. Er weiß, was er kann. Aber seine größte Stärke ist eine andere: Er weiß, was er nicht kann. Das tun dann andere.

Am 9. Juli 2006 wird sein Projekt beendet sein. Jürgen Klinsmann ist intelligent genug zu erkennen, wie schnell man sich in diesem Job verbraucht: seinen Körper, seinen Geist, sein Vokabular, aber auch sein Bild in den Medien und bei den Spielern. Er sieht einen “Entwicklungsprozess bis weit über 2006 hinaus”, aber so, wie er sich verausgabt, nicht nur bei beim Shuttle-Service um die halbe Welt, lässt es darauf schließen, dass der Tag des Finales sein Stichtag ist. Ganz egal, ob Deutschland das große Ziel erreicht oder schon in der Vorrunde ausscheidet. Er hätte sich dann abgenutzt. Die Intensität der Personalführung auf ein einziges großes Ziel hin verträgt vermutlich keine Wiederholung ab dem Tag danach.

Thomas Hitzlsperger hat Interviews für die FR und für das Hamburger Abendblatt gegeben.

ABENDBLATT: Unterscheidet sich Klinsmann mit diesem positiven Stil von anderen Trainern, die Sie bisher kennengelernt haben?

HITZLSPERGER: Ich habe noch keinen Trainer erlebt, der sich so vor die Mannschaft stellt, der den Spielern Selbstbewußtsein gibt und der sagt: Ihr könnt Fehler machen! Alles, was ich von euch will, ist, daß ihr Euch an Regeln haltet, Respekt füreinander habt. Das ist seine Mannschaft, die er schützen will, weil ja auch viel Kritik von außen kommt. Er geht ehrlich mit uns um, durchaus auch kritisch. Er sieht noch 20, 30 oder 40 Prozent Potential.

Das erinnert mich an irgendeine Aussage von Bierhoff die ich der Tage gelesen habe. Erziehung der Spieler zur Selbständigkeit. Mitunter stellen sich Klinsmann und Bierhoff abends vor der Mannschaft hin und sagen: “Heute abend gibt es hier kein Essen, geht’s nach draussen und besorgt euch was.”

Wie Interviews mit Fußball-Stars aussehen können, zeigt der Guardian am Beispiel von Lauren, den Abwehrspieler bei Arsenal.

Ein Brasilianer würde sich wahrscheinlich inzwischen wünschen, nicht zuhause Urlaub zu machen, sondern in Deutschland zu spielen: Roberto Carlos. Er wurde am Freitag “live”, während eines Telefoninterview mit einer Radiostation, in seinem Auto überfallen. Meldet der Guardian.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp