Der WM-Reader: France Football über Jacquet, Viera, Beckenbauer und Matthäus

France Football ist ein zweimal die Woche (Di, Fr) erscheinendes Fußball-Magazin in Frankreich. 56 Seiten im A4-Überformat, durchweg Vierfarbdruck, 1,50 EUR bzw. in Deutschland 2,80 EUR. Gilt als französische Fußballbibel, genießt auch international einen guten Ruf, organisiert z.B. den Preis “Weltfußballer des Jahres”.

Die letzte Freitagsausgabe war die Nr. 3138, mit dem französischen Nationaltrainer Raymond Domenech auf dem Titel (“Wer sind Sie, Herr Domenech?”).

Die Titelgeschichte ist auf dem zweiten Blick interessanter als man glaubt: ein Institut hat die Medienarbeit der letzten acht französischen Nationaltrainer der Neuzeit untersucht (Hidalgo, Michel, Platini, Houllier, Jacquet, Lemerre, Santini und Domenech) und anhand von Faktoren wie “Seriösität”, “emotionale Ansprache”, “Sicherheit ausstrahlend” etc.. gemessen.

Das Ergebnis ist im Falle von Domenech wenig überraschend, aber auf den Punkt. Er gilt als Trainer der am meisten mit Ratio und Kalkül arbeitet. Nachdem er mit Ironie und Wortwitz sich schnell eine blutige Nase geholt hat, hat er seine Medienarbeit auf ein absolutes Minimum reduziert, beschränkt sich auf simple, unmißverständliche Statements und versucht soviel Kontrolle zu behalten wie möglich. Dieser Wandel in seiner Medienpolitik stimmt just auch mit dem Zeitpunkt überein – letzten Sommer –, als er bei Zidane und Co. zu Kreuze gekrochen ist um sie zu einer Rückkehr in die Nationalmannschaft zu bewegen. Der letzte Sommer war in vielerlei Hinsicht für Domenech eine Bankrotterklärung seiner Ambitionen.

Beim Lesen sind mir einige Passagen zu Frankreichs Weltmeister-Trainer Aimé Jacquet aufgefallen und ich habe begonnen mich zu fragen, ob Jürgen Klinsmann den 98er-Erfolg des Gastgeber Frankreichs als Blaupause für 2006 heranzieht.

Wie Klinsmann stellte auch Jacquet (und sein kurzlebiger, erfolgloser Vorgänger Houllier) ein Bruch in der französischen Trainertradition da (auch wenn er anders als Klinsmann, kein Seiteneinsteiger war, sondern vom Vereinstrainer zum Assistenten seines Vorgängers Houllier und dann Cheftrainer wurde). Jacquet war ein Freund des offensiven Umgangs mit den Medien. Weil er auch an Houllier sah, welche Wirkung die Medien auf seinen Job hatten, war Medienarbeit ein zentraler Punkt seiner Tätigkeit: die bewusste Steuerung indem er versuchte die Arbeit der Medien zu antizipieren. Es gelang ihm als ersten französischen Nationaltrainer die Themen “Teamgeist” und “Motivation” in den Medien zu platzieren.

Jacquets “Masterplans” zur WM 1998 enthielt zwei Prioritäten: 1.) Leitung der Mannschaft und 2.) Schaffung eines idealen Umfelds für die Mannschaft. Die Medienarbeit gehörte für Jacquet zum zweiten Punkt. Jacquet war ein Detailfreak, der minutiös versuchte alle Details zu optimieren, um der Mannschaft die besten Voraussetzungen zum Erfolg zu geben. Das erinnert an zahlreiche Kleinigkeiten aus der deutschen Vorbereitung: das bewusst ausgesuchte Quartier in Berlin, das ruhige Refugium in Grünewald, die sehr methodische Gegnerbeobachtung, die wissenschaftliche Begleitung des Fitnesstrainings etc…

Trotz aller Versuche von Jacquet: als die Erfolge in den Testspielen ausblieb und die Mannschaft zudem unattraktiven Fußball zeigte, schlugen die Medien zurück. Jacquet konnte es nicht völlig nachvollziehen, da er sich im Sinne seines Masterplans auf dem besten Wege wähnte. Das mündete in einen Kleinkrieg und gegenseitiger Schuldzuweisung, bis die WM begann. Als Jacquet die WM gewann, zeigten viele Medien Demut und betrieben in den folgenden Jahren “Selbstzensur” und blendeten negative Themen aus, um beim Publikum nicht wieder als Schwarzmaler dazustehen.

Die Parallelen zwischen Jacquet und Klinsmann in Sachen Medienarbeit sind vorhanden. Gleiche Ausgangssituation: beide versuchen das Gastgeberland nach Negativerlebnissen (Frankreichs Nicht-Quali für die WM 94) wieder aufzubauen. Beide versuchen einen Umbruch im Kader. Jacquet bricht mit Papin, Ginola und Cantona. Aber Jacquet hatte mehr Zeit als Klinsmann: vier statt zwei Jahre. Und Jacquet spielt mit einem erfahrenen Kader. Die Abwehr: 33, 30, 29 und 26 Jahre alt (Klinsmann: 27, 26, 23, 22 Jahre). Das franz. Mittelfeld ist jünger: 30, 28, 26, 26 Jahre (Klinsmann: 33, 30, 30, 22). Und der franz. Angriff ist blutjung: Henry und Trezeguet sind 21 Jahre alt (Klose & Podolski: 28, 21 Jahre).

Dieser Altersvergleich macht noch einmal deutlich, dass die WM für Deutschland vielleicht 2 Jahre zu früh kommt. Aber hat Jürgen Klinsmann Alternativen gehabt?

Debakel

Ebenfalls im Heft ist ein kleines Portrait des französischen Trainers der Elfenbeinküste, Henri Michel, der noch einmal nachdrücklich das Debakel schilderte, dass er 1994 in den USA als Trainer Kameruns erlebte.

Sechs Monate vor der WM wurde Henri Michel vom Verband angeheuert und versuchte in kürzester Zeit mit vier Vorbereitungscamps quer über die ganze Welt eine Einheit zu formen. Doch Spieler und Verband waren noch vom Erfolg bei der WM 1990 geblendet und ergingen sich in endlosen Debatten über Prämien. In den Tagen vor der WM halten die Diskussionen an, die Nominierung des 42 jahre alten Roger Milla und die Konkurrenz der Torhüter untereinandere, brachten das Faß zum Überlaufen. War der Start in die WM mit einem 2:2 gegen Schweden noch in Ordnung gewesen, geriet die Situation nach einem 0:3 gegen Brasilien und einer 1:6-Klatsche gegen Russland außer Kontrolle, inkl Faustkämpfen im Hotel. Henri Michel meint noch heute: “Wenn ich mir diese Verschwendung von Talent damals ansehe, wird mir übel […] Die Erfahrung mit Kamerun hat nicht meine Passion für Fußball getötet, aber meine Sensibilitäten ausgelöscht.”

Das Problem Patrick Viera

Es folgt dann eine mehrseitige Analyse des Testspiels gegen Dänemark, ohne dass irgendwo der Spielverlauf schriftlich ausgebreitet wurde.

Den Dänen wird attestiert mit dem 4-3-3 und einem aggressiven Mittelfeld das französische Spiel in Probleme gebracht zu haben. Sorgen macht dabei vorallem Patrick Viera, dessen Antileistung im Dänemark-Spiel für die gesamte rechte Seite ein Problem darstellte, da der Gegner ungebremst auf Sagnol und Thuram zurennen konnte. France Foot fragt daher, wie tragbar Viera und das aktuelle 4-3-1-2 ist. Da France Foot nicht an einer Ausbootung von Viera glaubt, spekuliert es über ein Wechsel zum 4-2-3-1, bei der Viera (dann zentraler) mit Makelele defensives Mittelfeld spielen würde und Wiltord oder Ribéry an der Seite von Zidane und Malouda die Sturmspitze Henry unterstützen würden.

Für Viera spräche, dass er auf Mission ist. Er hat sich und den Zuschauern was zu beweisen, nach einer furchtbaren Saison bei Juventus und nachdem er als zentrale Figur in der Nationalmannschaft nach Abgang von Deschamps noch keinen Titel geholt hat.

Thomas Berthold und die Dolce Vita

Auf vier Seiten wurde der Weltmeistertitel Deutschlands bei der WM 1990 aufbereitet, u.a. mit einem sehr relaxten Interview mit Thomas Berthold. Ein kleines Highlight aus dem Interview: Frage von France Foot zum Viertelfinale gegen die CSSR nach dem Achtelfinalsieg gegen Holland: Warum wurden Thon und Littbarski aus der Startelf genommen und auf die Bank gesetzt? Antwort Berthold:

Nach außen hin mag es überraschend gewesen sein, aber Beckenbauer hatte die Angewohnheit zwei Spieler aus der vorigen Startelf für das nächste Spiel auf die Bank zu setzen. Gegen die CSSR hatte es Thon und Littbarski erwischt, im Halbfinale ließ Beckenbauer dann Thon und Bein spielen und wieder war jedermann überrascht.

Ich weiß nicht warum Franz das gemacht hat. Intuition? Erkenntnisse aus dem Training? Franz hat sich niemals erklärt, gab nicht die kleinste Erläuterungen. Keine taktischen Anweisungen. Nichts über den Gegner. Kein Stück Videoanalyse. Vor jedem Essen sagte er immer nur: “Hörts, wir können uns nur selber schlagen. Mahlzeit”. Das einzige was er darüberhinaus gemacht hat, war uns vor dem Halbfinale gegen England zu fragen, ob wir nach Turin erst am Abend vor dem Spiel oder bereits drei Tage vorher fahren sollten.

Noch ein Highlight zum Thema Lothar Matthäus. Frage von France Foot: warum hat im Finale Andy Brehme den Elfer geschossen und nicht Lothar Matthäus?

[Berthold fängt an hysterisch zu lachen] Weil Lothar nicht die Eier hatte. Er sagte, er wolle nicht schießen, weil er neue Fußballschuhe habe und darin noch kein gutes Ballgefühl besässe. Hey, kein Profi zieht zu einem Finale neue Fußballschuhe an. Nein, Unsinn, Matthäus hatte Muffensausen. Das war Lothars große Schwäche: wenn es brenzlig wurde, verschwand er.

Weitere WM-Themen in der France Football vom letzten Freitag:
“Die Apostel der Methode Orange” über die vier holländischen Trainer bei der WM.
“Lemerre, von einem zum anderen Leben” über die Wiedergeburt von Roger Lemerre als Nationaltrainer Tunesiens nach dem bitteren Fiasko also französischer Nationaltrainer bei der WM2002.

Darüberhinaus einige Artikel zum in- und ausländischen Fußball (neuer Trainer bei Auxerre, Interview mit OM-Präsidenten, Artikel zum Wechsel von Schevtschenko)

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Ich hab schon öfter vom französischen Sturm Henry/Trezeguet bei der WM 1998 gelesen, was mich immer wieder irritiert. Die beiden haben nur in einem Spiel (Achtelfinale gg. Paraguay) gemeinsam von Anfang gespielt. Danach spielten beide nicht mehr von Beginn an. Im Finale wurde beide sogar gar nicht eingesetzt. Man darf z.B. auch nicht Stephane Guivarc´h vergessen, der ab dem Viertelfinale immer als einzige Spitze begonnen hat.

  3. In meinem Fall liegt das simpel daran, dass es für mich am einfachsten war, die Stürmer mit den meisten Einsätzen bei der WM nachzuschlagen, als die jeweiligen Aufstellungen zu eruieren, wer wann ein- und ausgewechselt wurde und möglicherweise die meisten Einsätze hatte. Trezeguet, Henry und Guivarc’h hatten 1998 jeweils 6 Einsätze und Guivarc’h ist nicht nur unbekannter gewesen, sondern auch der einzige der drei ohne Tor.

    Man hätte im Mittelfeld auch Djorkaeff nennen müssen, der nominell die meisten Einsätze hatte…

    Aber da es mir nur um eine Gegenüberstellung der Altersstruktur ging, halte ich es für legitim…

    Im Nachhinein bin ich erstaunt wie alt die französische Mannschaft gewesen ist, da mein trübes Gedächnis sie immer mit jungen Nachwuchs gleichgesetzt hat. Nicht zuletzt weil Frankreich auch immer als Paradebeispiel für Nachwuchsarbeit genannt wird. Aber tatsächlich ist dieser Nachwuchs, von obigen Ausnahmen in der 98er-Elf abgesehen, erst ab 2002 massiv eingeflossen. Und wieviele Titel Frankreich seitdem gewonnen hat, ist bekannt…

  4. Aktuell: Schlimmer Schienbein/Wadenbeinbruch von Cisse. Einnert mich an das weggeknickte Larsson Bein in den 90ern.

  5. @dogfood: Will nicht klugscheissen, aber die Mannschaft wohnt im “Grunewald”, mit “U”….! :-) Der mag grün sein, heißt aber nicht so.