Die französische Charakterfrage

Nicht nur die Deutschen kommen reichlich lädiert aus diesem Länderspiel-Wochenende, auch die Franzosen haben ihre Baguette mit reichlich Selbstzweifeln belegt, obwohl ich sie sooooooooo schlecht gegen die Schweiz nicht gesehen habe.

Ein Artikel in der L’Équipe analysiert die “Baustelle Frankreich”.

Man hat nachgezählt: 33 Spieler wurden in den 9 WM-Qualifikationsspielen eingesetzt, davon aber nur drei ohne Länderspielpraxis. 6 verschiedene Spielsysteme in verschiedenen Variationen wurden von Domenech eingesetzt: 3-5-2, 4-4-2, verschiedene Geschmacksrichtungen des 4-5-1, 4-3-3, 4-1-3-2, Zidanes Lieblingssystem 4-2-3-1

Aber so frustriert wie nach dem Unentschieden in der Schweiz, ward Domenech noch nie gesehen. Er beklagte sich über die schlecht verlaufene Vorbereitung und Rahmenbedingungen und spielte damit auf seine Spieler an: Barthez und Sagnol gesperrt, Henry und Trezeguet verletzt, Zidane, Thuram und Viera entweder komplett außer Form oder ohne Spielpraxis, Abidal und Givet konnten nicht kommen.

Die Zeitung konstatiert dass der Kopfmensch Domenech es mit seinen taktischen Tricksereien auch übertreibt, zuletzt gegen die Schweiz mit der Aufstellung von Wiltord als einzige Spitze und Dhorasoo als hängenden rechten Stürmer. Zu allem Überfluß ist die Mannschaft nicht eingespielt. In der Ära Domenech trat die Mannschaft nicht ein einziges Mal in der gleichen Startformation an, größtenteils durch Verletzungen oder Sperren bedingt. So konnte Domenech nicht ein einziges Mal Henry und Trezeguet gleichzeitig einsetzen. Drei verschiedene Innenverteidigungen wurden ausprobiert (Squillaci/Givet, Boumsong/Givet, Thuram/Boumsong), aber keine spielte öfters als drei Spiele. Zwischen der ersten und 7ten Partie in denen Viera und Makelele jeweils defensives Mittelfeld spielten, setzte Domenech fünf unterschiedliche Spieler im defensiven Mittelfeld ein: Pires, Dacourt, Silvestre, Mendy, Evra und Pedretti.

Der “Irish Examiner” will im Schnitt vier Veränderungen pro Partie festgestellt haben, was ziemlich weit oben auf der Trapattoni-Skala ist. L’Équipe:

Die französische Nationalmannschaft der WM 2006 ist eine Mannschaft auf der ewigen Suche, ohne dass sie bislang viel gefunden hätte.

Wie elendig die Situation auch nach den Maßstäben von Raymond Domenech selber ist, zeigen die Sätze die er vor mehr als einem halben Jahr, nach dem Freundschaftsspiel gegen Schweden gemacht hat.

Man erfindet keine Mannschaft. Eine Mannschaft muss Spiele machen. Sie braucht Stabilität. Ich meine damit eine Stabilität wie 1998, als man, bis auf 1-2 Positionen, die Startelf lange vorher kannte.Alle großen Mannschaften sind derart stabil. Der ideale Zustand ist erreicht, wenn es eine feste erste Elf gibt und einige Ersatzspieler die darum kämpfen ab und zu in die Startelf zu kommen. Ich weiß nicht, wann ich die Mannschaft soweit habe.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Da siehst Du aber auch, was ich gestern meinte: Die L’Equipe schreibt über die Spieler, das System etc. Eben über Fußball. In Deutschland diskutiert man die Befindlichkeit der Liga und redet diffus von Krise.

  3. Das bestreite ich nicht. Ich bin einer der ersten die über die Qualität des deutschen Sportjournalismus im Allgemeinen und des Sportjournalismus in den elektronischen Medien im Besonderen jammern.

    Was im Zusammenhang mit der Nationalmannschaft negativ auffällt, ist die “Monotonie” der Berichterstattung. Jeder Journalist bedient sich der gleichen Versatzstücke die am Vortag aufgeschnappt wurden. Ich glaube ich habe z.B. heute in allen Qualitätszeitungen den Spruch von Löw lesen können, dass der 3.500m-Ausdauerlauf nicht zu schwierig gewesen sei, den habe sogar Jürgen Klinsmann mitmachen können, obwohl seit zehn Jahren nicht mehr aktiv. Die Zeitungen unterscheiden sich nur noch dadurch, ob sich Klinsmann ab und zu in den USA per “Joggen” (Tagesspiegel) oder “Radfahren” (FR), “Laufen und Radfahren” (SZ) fit halten würde.

    So sieht der Sportteil in deutschen Zeitungen aus…

    Um noch einmal einen Vergleich mit der Politik zu bemühen: nach der Wahl waren alle Journalisten erstaunt, dass sie mit ihrer Einschätzung über die Stimmung im Volk bzgl. eines Machtwechsels so danaben lagen, sich derart ein eine eigene Blase hineingequatscht haben. Möglicherweise erleben wir so etwas gerade auch mit der Nationalmannschaft. Von der von zahlreichen Journalisten herbeizitierten Depression ist nicht viel zu merken gewesen. Bei einem öffentlichen Training am Montag mittag kamen über 10.000 Fans in die AOL-Arena…

  4. Ich weiß, das wir da einer Meinung sind. Nur geht mir diese ausschließliche Boulevard-Berichterstattung inzwischen dermaßen auf den Keks, dass ich da immer wieder drauf rumreite.

    Schauen wir uns doch mal L’Equipe-mäßig das Spielsystem der deutschen Mannschaft an:
    Sie spielt wie die Spitzenvereine der Liga ein 4-4-2 mit Mittelfeldraute. Funktioniert aber nicht wirklich gut. Ist das dann tatsächlich das richtige System für die Nationalmannschaft? Ich behaupte mal: ein 4-4-2 mit zwei defensiven Mittelfeldspielern wäre besser.
    Damit würden die Defensivschwächen der Außenspieler Deisler und Schweinsteiger nicht mehr so ins Gewicht fallen und wir stünden mit zwei Defensiven vor der Abwehr kompakter. Genau da, wo in den Spielen gegen die Niederlande, die Slowakei und die Türken die Lücken klafften.
    Hinzu kommt, dass wir (meiner Meinung nach) genau die Spieler für ein solches System haben:
    Defensiv schwache Außen, die Entlastung in der Arbeit nach hinten brauchen.
    Einen Michael Ballack, der die Position im defensiven Mittelfeld (z.B zusammen mit Torsten Frings) hervorragend spielen kann, weil er auf dieser Position groß geworden ist und seine Spielweise (kurz gesagt: überall da aufzutauchen, wo er gebraucht wird) ideal dafür ist. Er kann sowohl den Abräumer, als auch den Aufbauspieler im DM geben, ist läuferisch stark genug, von dieser Position (mit und ohne Ball) in das zentrale offensive Mittelfeld vorzustoßen.
    Vorne haben wir mit Podolski einen Stürmer, der sich gerne mal fallen lässt, und so wie Ballack aus der Defensive heraus, aus der Offensive die zentrale Mittelfeldposition besetzt, um von dort aus seinen Sturmpartner oder die Außenspieler zu bedienen (oder erstaunlicherweise selber zu treffen).
    Zusammengefasst: In einem 4-4-2 mit zwei defensiven Mittelfeldspieler würde die Mannschaft in der Defensive kompakter stehen und wäre in der Offensive schwerer auszurechnen. Zudem läge es den Spielern eher.
    (Selbst wenn diese Ausführungen taktisch totaler Blödsinn sein sollten, was ich nicht glaube, steckt da mehr Fußball drin, als in der gesamten Sportpresse der letzten drei Tage. Behaupte ich mal so.)

    Zwei andere Punkte noch:
    1. 3.500m? Darum geht’s? Das ist mir (zum Glück) entgangen. 3,5km sind für austrainierte Sportler ein guter Witz und keine Belastung. Selbst ich als Freizeitsportler käme nach 3,5km nach Hause und würde mich fragen, was ich gerade überhaupt gemacht habe.
    2. Ich würden den Vergleich mit der Politik unterschreiben. Es gibt in Deutschland aber generell (ich weiß, das ist pauschal) in den letzten Jahren eine Neigung Hysterie um Nebensächlichkeiten zu entfachen. Das erleben wir, wie hier ja mehrfach beschrieben, im Sportjournalismus, aber auch im politischen Journalismus. Daraus entsteht dann eine eigene Blase, die ohne jeden Realitätsbezug auskommt.
    Um den Rückschluss auch noch zu machen: Im Fußball schreiben sie alle über Befindlichkeiten und Krise, in der Politik aktuell über die Kanzlerfrage. Nur ist die im Vergleich zu den Themen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, Föderalismusreform und Bekämpung der Arbeitslosigkeit nachrangig. Es ist aber einfacher drüber zu schreiben.

  5. Also im Prinzip gehe ich mit deinen Ausführungen d’accord. Ich sehe auch eher ein 4-2-2-2 oder 4-2-3-1. Ballack sehe ich allerdings weniger als Mann für die Defensive. Er ist zwar ein physischer Offensiv-Mittelfeldspieler der auch nach hinten arbeitet, aber ich hielte sein Potential für vergeudet, wenn man ihn neben Frings stellt. Wenn man eine derartige Auswahl an defensiven Mittelfeldspielern hat wie Frings, Ernst, Borowski und gleichzeitig eine derart schwache Abwehr hat, dann sehe ich wirklich zwei lupenreine defensive Mittelfeldleute. Hätte auch einen weiteren Vorteil: da die beiden Außenverteidiger so schwach sind, würde eine 2er-Defensive im Mittelfeld plus Ballack nicht so auseinandergezogen werden, wie eine Kombination Frings-Ballack alleine.

    Ob man nun dem offensive Ballack einen oder zwei weitere Kollegen zur Seite stellen sollte, bin ich mir nicht sicher. Es böten sich theoretisch mit Schweinsteiger und Deisler zwei Spieler an, aber Deisler hat mich in all den Vorbereitungsspielen noch nicht davon überzeugt dass er unverzichtbar ist. Daher tendiere ich zu einem 4-2-2-2, wobei Ballack Schweinsteiger an die Seite bekommt und Podolski im Sturm sich zurückfallen läßt bzw. mit Schweinsteiger rochiert. Ob man vorne Kuranyi oder Klose hinstellt, ist mehr oder weniger gehüpft wie gesprungen.

    Zu 1: Bei den kritisierten Ausdauerübungen handelte es sich lt. FAZ um “ein Ausdauertest über 3.500 Meter, fünf Sprints über 30 Meter sowie noch zweimal zwei kurze Sprints

    Zu 2: Ganz groß auch die Berliner Zeitung heute morgen. Erst mitmachen wenn das Faß aufgemacht wird und dann am Mittwoch die Meta-Diskussion anfangen: “Das große Plappern“: . Seit der 1:2-Niederlage in der Türkei sagt jeder, was ihm gerade zur Nationalmannschaft einfällt; alle plappern wild durcheinander

  6. Ich steig jetzt erst gar nicht in die Meta-Diskussion ein, aber ein bemerkenswert sinnfreier Bericht über eine sinnfreie Diskussion, den die BZ da vom Stapel lässt.

    Schreibe ich lieber zu Ballack: Möglicherweise ist er tatsächlich als Defensivspieler verschenkt. Ich sähe ihn auch eher als “Umschaltspieler” für die Balleroberung und die Spieleröffnung über die Außen Schweinsteiger und Deisler (trotz allem) oder eben einen zurückfallenden Podolski. Da Ballack auf dem Feld weite Wege geht und den vermutlich größten Aktionsradius im internationalen Vergleich besitzt, würde er auch aus der Ausgangsposition 10 Meter hinter dem Mittelkreis das Spiel gestalten können. Frings und Borowski können das m.A. nach nicht.
    Mehr Probleme habe ich aber bei einem offensiven Ballack im 4-2-2-2 mit den Außen. Du hättest dann vermutlich Ballack auf halbrechts und Schweinsteiger auf halblinks. Die Außen müssten dann von den Verteidigern besetzt werden: Links Jansen, vielleicht Lahm, rechts Friedrich oder Owomoyela (Hinkel sehe ich in seiner derzeitigen Verfassung als 3. Wahl an). Die Frage ist, ob sie dazu in der Lage sind?

  7. Mehr Probleme habe ich aber bei einem offensiven Ballack im 4-2-2-2 mit den Außen. Du hättest dann vermutlich Ballack auf halbrechts und Schweinsteiger auf halblinks.
    Nicht ganz. Ballack würde zentral offensiv bleiben, Schweinsteiger auf der einen Seite, Podolski auf der anderen Seite, noch offensiver, als zurückhängende Sturmspitze. Beide frei die Seiten wechselnd und ohne Defensiv-Aufgaben, plus eine reinrassige Sturmspitze. Ob man die Formation nun wg. des zurückhängenden Podolski noch als 4-2-2-2 oder 4-2-3-1 bezeichnet, ist eher Kosmetik.

  8. Hm, hm, wäre (ich bin Kosmetiker) eher ein 4-2-3-1. Aber über System und Interpretation könnte man eine eigene Diskussion führen.
    Schweinsteiger auf rechts und Podolski links. Könnte gehen.
    Ein Nachtrag noch zu Ballack. Ein Freund von mir hat mich heute auf eine Aussage Ballacks aufmerksam gemacht: “Ich habe das Spiel gerne vor mir.” als Hinweis darauf, dass er gerne im defensiven Mittelfeld spielt.
    So, jetzt zurück nach Hause. :-)

  9. Nachtrag: Könnte aber nur gehen, wenn sich Podolski unter Rapolder noch mit dem 4-2-3-1 anfreundet. Wie gesagt flexibel rochierend kann er es spielen. Ganz vorne und zentral eher nicht.