Und täglich grüßt der HSV
Es war vor dem Spiel in Wolfsburg viel von der “letzten Patrone” Dolls die Rede. Möglicherweise war aber damit eher die letzte Patrone der Journalisten gemeint, denn nachdem nicht der kleinste Riß in der Führungsetage zu sehen ist und Thomas Doll wieder etwas gefasster wirkt, dürfte den Journalisten langsam der Stoff ausgehen um neue Reizpunkte in der HSV-Story zu setzen. Man merkt es auch an den Kommentaren hier, in denen seit Saisonbeginn immer wieder die gleichen Fakten und Vorwürfe hervorgeholt werden. Man merkt es den Zeitungsartikeln und Fernsehberichten an, wenn die Moderatoren den ewig gleichen Sachverhalt von ihrem Zettel ablesen.
Als “interessierter Beobachter” schmeißt man bei jeder Gelegenheit das Mikroskop an und versucht aus kleinsten Veränderungen positive oder negative Entwicklungen abzuleiten.
Gestern füllte sich die Bodega nach Anpfiff recht zügig. Die Attraktivität des HSVs und die Empathie für den Verein ist zumindest in Hamburg noch ungebrochen.
Thomas Doll machte das angekündigte Großreinemachen und stellte auf sechs Positionen um (nur eine davon, Kompany, war verletzungsbedingt). Es machte auch deutlich, dass Doll derzeit verletzungsbedingt an einigen Positionen aus dem letzten Loch pfeift.
Benny Feilhaber machte als “Sechser” einige gute Spiele, aber sowohl im Porto-Spiel als auch gestern war er eher ein Unsicherheitsfaktor. Im Grunde genommen hätte er gestern eine Pause gebraucht, aber ohne Wicky, De Jong und Demel hat Doll keine Alternativen.
Die Innenverteidigung des HSVs kann sich seit Wochen kaum einspielen. Wegen dem verletzten Kompany musste nun Außenverteidiger Klingbeil rein. Klingbeil ist im Doll’schen Sinne eine positive Erscheinung. So technisch limitiert er ist und sowenig er für den Spielaufbau tun kann. Wenn es darum geht abzuräumen und gepflegt blaue Flecken zu verteilen, ist er der richtige Mann. Gegen Porto wurde eine solche Rustikalität vermisst, gegen Wolfsburg brachte er eine angenehme Portion Physis mit rein.
Trochowski blieb draußen und Atouba drinnen. Das mit “Trocho” kann ich verstehen. Er wirkte in den letzten Wochen etwas überspielt. Aber ohne Trochowski hat sich Atouba von alleine aufgestellt, da ohne Trochowski Sorin im linken Mittelfeld bleiben musste.
Auch das man zwei neue Stürmer reinschmeißt, ist nachvollziehbar. Guerrero ist auf dem linken Flügel stark und kann mit potentiell für Druck sorgen. Für Lauth war es die Chance nach seinen letzten Auftritten nun den Heilsbringer zu spielen.
Soweit die Theorie.
Die Praxis?
Der HSV ergötzte sich in der ersten Halbzeit an seiner optischen Überlegenheit (Zeit im Ballbesitz), besaß aber soviel Zielstrebigkeit wie Frauen im Schuhladen. Anders Wolfsburg: schnelle Angriffe, straight Richtung Tor. Wolfsburg machte offensiv nicht viel, aber wenn sie es machten, war es gefährlich.
Wolfsburg ist für eine verunsicherte Mannschaft wie den HSV eine üble Mannschaft. Augenthaler trat mit einer 8-Mann-Abwehrkette an. In den ersten 20 Minuten spielte Wolfsburg mit viel Pressing auf den ballführenden Spieler, ehe sie sich danach damit zufrieden gaben, einfach den Raum eng zu machen. Der HSV verlor viele Bälle nicht weil die Wolfsburger auf den Füßen standen, sondern weil sie den HSV keine Passwege anboten. Das führte dann zu oben erwähnten, mangelhafter Zielstrebigkeit der Hamburger. Und die Hamburger waren zu verunsichert um sich ein höheres Tempo zuzutrauen, um zu versuchen die Wolfsburger auseinanderzureißen.
Dann das Gegentor durch Wolfburgs Hanke, eine Art Blaupause der Porto-Gegentreffer: Flanke in den Strafraum, Ballverlust beim Versuch zu klären, schnelles Zuspiel und Tor. Das Stellungsspiel der HSV-Abwehr bei hohen Bällen in den Strafraum ist unterirdisch. Inbesondere wenn die Außenverteidiger Atouba und Fillinger in den Strafraum einrücken und Deckungsaufgaben übernehmen sollten. Hier zeigt sich einfach das Problem der zahlreichen Wechsel und Verletzungen.
Der HSV hat die erste Halbzeit im Grunde genommen wieder wg. Harmlosigkeit, verdaddelt.
Anders sah es in der zweiten Halbzeit aus, als der HSV mit ablaufender Spielzeit immer schneller spielte und immer mehr den Druck erhöhte. Insbesondere die Einwechslungen von Trochowski und Sanogo belebten das Spiel. Durch die Tempoverschärfung konnte der Wolfsburger Beton aufgeknackt werden und es kam in der Folge zu einigen heißen Torchancen. Doch der HSV konnte das Tempo nur bis zur 80ten Minute hochhalten und dann traten kollektiv konditionelle Probleme ein. Zahlreiche Unsauberkeiten im Anspiel, mangelnde Spritzigkeit. Es wurde nur noch hoch und weit gespielt.
Angesichts der Torchancen des HSVs eine unglückliche Niederlage. Das Bemühen des HSVs zeigt im Gegensatz zur Vorstellung gegen Porto, wieder einiges an Leben.
Das Spiel zeigte aber auch, dass der HSV noch Wochen brauchen wird, um einen länger anhaltenden Aufwärtstrend aufzubauen. Der Kader ist derzeit zu dünn besetzt und Schlüsselspieler müssen erst wieder ihre Form finden.
Wächter – Es ist in den letzten Wochen immer wieder davon gesprochen worden, dass Kirschstein zu wenig kommuniziert (Atouba verschuldete derart 2 Tore). Vom Fernseher aus, keine Ahnung ob sich das gebessert hat. Die Präsenz von Wächter im Strafraum ist größer, aber bei jedem Rückpass strahlt er Nervenflattern aus.
Innenverteidigung Klingbeil, Mathijsen – So wie die Abwehr derzeit zusammengesetzt ist, kann intelleligenter Spielaufbau nur über Atouba passieren. Aber Mathijsen bemüht sich immer mehr das Heft in der Abwehr an sich zu ziehen und auch mehr als nur den Sicherheitspass zu spielen. Die Probleme im Strafraum geschehen meistens im Zusammenhang mit den Außenverteidigern die schlecht stehen. Aber z.B. beim Gegentreffer von Hanke frage ich mich, wo Klingbeil war, dass sich Fillinger um Hanke bemühen musste.
Außenverteidigung Atouba, Fillinger – Atouba ist derzeit ein Problem, weil er bei ihm mit schöner Regelmäßigkeit nach 60 Minuten der Akku leer ist und danach seine Fehlerquote nach hinten und vorne ins Unermessliche geht. Hätte Doll Alternativen, dürfte Atouba derzeit nicht länger als eine Stunde auf dem Platz stehen, denn die Zahl der Ballverluste ist immens. Atouba muss man aber zugute halten, dass er die wichtigste Achse für die Offensive darstellt und solange die Kraft ausreicht, auch der einzige brauchbare, regelmäßige Flankengeber ist. Teil seines Problems, ist der fehlende “Partner”. Sorin verzieht sich immer noch zu häufig nach innen und die Chemie mit Guerrero ist noch nicht entwickelt.
Richtig gefordert war Fillinger eigentlich nicht, aber aus seinen Freiräumen hat er zuwenig gemacht und er war an zwei Schlüsselsszenen beteiligt, als er den Gegentreffer mit verschuldete und später freistehend den Ausgleich hätte schießen können. Erst zur “Schlußoffensive” versuchte er bis zur Grundlinie durchzukommen.
“Sechser” Feilhaber – Seit zwei Wochen stark fallende Tendenz. Braucht ASAP eine Pause. Gegen eine Mannschaft die schnell und massiv durch die Mitte kommt, hätte es gestern ein Blutbad gegeben.
Mittelfeld Außen Jarolim, Sorin – Sorins taktische Aufgaben geben immer noch ein Rätsel auf. Vielleicht hat er wirklich von Doll “carte blanche” bekommen. Zieht häufig nach innen, bringt aber auch eine nötige Bissigkeit ins Spiel. Leider häufig verpulverte Energie solange er so un-eingebunden ins HSV-Spüiel wirkt.
Jarolim. Hmmm. Okay, Doll muss für jeden Mann dankbar sein, der den Ball führen kann. Und Jarolims gestrige Leistung wurde natürlich noch von der Schulterverletzung und der Pause geprägt. Aber mit Jarolim gibt es derzeit zwei Probleme: dem HSV fehlt es an Zielstrebigkeit und der schnörkeligste Spieler aller Schnörkelspieler, ist Jarolim, der Kreise dreht, der den Ball annimmt, das Dribbling sucht, kurz: er verschleppt das Tempo und das macht ihn trotz seiner technischen Qualitäten derzeit kontraproduktiv.
Hinzu kommt noch ein anderes Problem: an guten Tagen zieht er Fouls und Freistöße wie kein zweiter Spieler. Aber ein kleiner Teil der HSV-Krise ist auch eine Krise der Standards, die derzeit von van der Vaart eher lasch und unkonzentriert getreten werden (geringfügig besser von Trochowski). D.h. die von Jarolim herausgeschundenen Freistöße bedeuten derzeit auch keine große Hilfe.
Immerhin passte sich Jarolim gestern den Gegebenheiten an: der gesamte rechte Flügel lag undank Fillinger brach, während mehr über links ging. Also rückte Jarolim häufig nach innen rein um Feilhaber in Sachen Spielaufbau zu entlasten.
Van der Vaart – Er setzt immer weider Zeichen, er bemüht sich, er versucht wie ein Kapitän zu agieren, aber derzeit gibt es immer noch zu lange Phasen, in denen er völlig untertaucht. So wie gestern über weite Teile der zweiten Halbzeit. Auch ein Zeichen wie wenig Mechanismen derzeit beim HSV funktionieren. Auch hier wieder: Kollateralschaden der Verletzungen und Sperren.
Sturm Lauth, Guerrero – Lauth bemühte sich in der ersten Halbzeit, ward aber in Halbzeit 2 nicht mehr gesehen, während Guerrero in der zweiten Halbzeit mehr Biß hatte. Sanogo zeigte nach seiner Einwechselung, dass er derzeit als hohe Anspielstation vorne, unverzichtbar ist und Ljuboja hatte einige quirlige Szenen, um dann wieder bei einigen Laufwegen völlig daneben zu liegen.
Nach dem Wolfsburg-Spiel bleibt die Feststellung: der HSV befindet sich derzeit im Neuaufbau und die Strukturen müssen wachsen. Das wird noch eine schwere Nummer. Momentan können Siege nur eingefahren werden, wenn richtig viel Kraft und Tempo investiert werden, in der Hoffnung dass von zehn herausgespielten Chancen eine irgendwie reingeht.
Ich würde den HSV gerne mit 3 Stürmern sehen: Guerrero und Ljuboja auf Außen, als Ergänzung für Atouba und Jarolim, sowie Sanogo als “Turm” in der Sturmspitze. Van der Vaart und Trochowski sorgen als Nachrücker für die Torgefahr aus der zweiten Reihe. Vielleicht sogar ein 3-4-3.
ARENA/Sportcast
Reporter der Wolfsburg – HSV-Einzeloption war Martin Quast. Auweia.
Wenn ein Kommentator nach gesprochenen Worten bezahlt wird, dann ist Quast bereits jetzt einer der ganz Großen. Er redete an einem Stück und schaffte es dabei, 90 Minuten über die Gesamtsituation des HSV zu referieren, aber nur selten auf das Spielgeschehen einzugehen. Wenn er es tat, dann beschrieb er, was wir alle gerade auf dem Fernseher auch sahen. Größere Erkenntnisgewinne über das was sich abseits des Monitors tat oder Spielsysteme oder einfach das Zeichnen des “Großen Bildes” der Partie, gab es nicht. Die Kommentierung war zudem HSV-lastig, über Wolfsburg gab es nur wenig zu erfahren. Das ging sogar soweit, dass Quast anfangs seinen Text über die HSV-Krise abspulte und die Umstellungen im Kader beschrieb, während das Bild gerade die Wolfsburger Aufstellung zeigt (wobei es natürlich sein kann, dass bei Quast der Monitor nicht funktionierte)
Die Bildregie war sehr schlecht. Häufig zeigte man Wiederholungen, während der Ball längst wieder gefährlich aufs Tor kam, umgekehrt gab es bei vielen Szenen keine gute Bildeinstellung (wer stand wie beim 1:0?). Statistikeinblendungen sind immer noch am untersten Limit.
Sportschau
Das war gestern meine erste vollständige Sportschau seit 6-7 Jahren. Und es hat weh getan. Es hat richtig geschmerzt zu sehen, wie brutalstmöglichst Refinanzierungsmöglichkeiten genutzt wurden. Und wenn es ging, würden die ARD dem Delling noch ein Fähnchen eines Sponsors in die Rosette stecken um Kohle dafür zu kassieren.
Der Informationswert der Spielberichte, sprich Vergleich 90 Minuten ARENA vs. 8 Minuten Sportschau, ist extrem gering. Wer erfahren will, wo der HSV steht, bekommt eine Ansammlung von Torschüssen serviert und vom Kommentator (Gottlob) keine weiteren, darüberhinausgehende Informationen.