Ich musste noch kurz vor sechs zu einem Kundenmeeting nach Winterhude und kam erst Viertel vor acht aus der Agentur raus (der Agenturchef fuhr mich dankenswerterweise noch zur nächsten U-Bahnstation). Weswegen ich mich noch in der U-Bahn kurzfristig entschied, nicht ganz bis zur Schanze oder Schlump durchzufahren, um in einer der mir bekannten Sportsbar einzukehren (ich hatte noch nicht gegessen und Tripper auf den Labskaus in der Bodega bekommen), sondern schon vorher, Eppendorfer Baum, auszusteigen. Ich meinte mich zu erinnern, dass in der Hegestraße eine Kneipe mit Fernseher wäre und alternativ sind in Eppendorf zahlreiche weitere Kneipen mit Chance auf Bundesliga-TV.
Daraus wurde dann ein Besuch im “Schröder” in der Hegestraße. Abgesehen von den Details die ich woanders geschrieben habe, besitzt das Schröders eine nennenswerte Skurrilität: die Kneipe ist verwinkelt angelegt und besitzt drei wohnzimmergroße Hinterzimmer, die jeweils mit einem Fernseher ausgestattet sind. Das Erlebnis “Bundesliga-Fußball” ist daher familiärer als aus anderen Sportsbars gewohnt und man bekommt sehr viel schneller den Charakter der mitanwesenden Gäste mit.
Ich platzte in die zweite oder dritte Spielminute rein und musste etwas länger Ausschau halten um noch ein Plätzchen in einer der drei Zimmer zu finden. Man reichte mir freundlicherweise einen Stuhl und der Platz war zwar etwas nackenverrenkend, aber okay.
Ich bin in einem Zimmer gewesen, in dem offensichtlich fast ausschließlich Stammgäste dabei waren, meist weit über 40 Jahre alt. Und es gab nicht einen, der sauer auf Doll gewesen ist. Und selbst die in den Medien oder auch teilweise hier in den Kommentaren anzutreffende Stimmung “der Vorstand hat versagt, weil Bullshit eingekauft” war dort nicht anzutreffen. Die Stimmung war überhaupt nicht feindselig gegen den Verein, sondern wirklich eher von den Gefühl “Pech”, “Seuche” oder “Unglück” geprägt, aber nicht von “Unvermögen” oder “Inkomptenenz”. Das ist für das was es ist, ein Sieg in 20 Pflichtspielen, eine erstaunlich friedfertige Stimmung.
Das erlaubt es dem Vorstand auch weiterhin sich bedingungslos vor Thomas Doll zu stellen. Doll bekommt von Fans und Vorstand anscheinend alle Zeit der Welt. Die Frage scheint nur zu sein: wieviel Nackenschläge verkraftet Doll noch. Ich glaube die HSV-Fans wären gut beraten, am Samstag im Stadion massiv Flagge pro Doll zu zeigen, um das Selbstbewusstsein von Thomas Doll zu stärken. Wenn Doll nicht ein totaler Autist ist, dann kann an ihm so eine Serie spurlos vorbeigehen und so ein Spiel wie gestern in Stuttgart…
Die HSV-Mannschaft begann in ähnlicher Aufstellung wie in Wolfsburg. Im Sturm starteten nun Ljuboja und Sanogo. Für den verletzten Atouba rückte Fillinger von rechts nach links und Mahdavikia kehrte aus dem Exil auf die rechte Seite zurück.
Das Spiel endete mit einer bitteren 0:2-Niederlage. Tatsächlich hat der HSV 80 Minuten lang den VfB Stuttgart an die Wand genagelt. Gefühlte Spielanteile: 80:20 zugunsten des HSVs. Beim VfB ging vorne kaum etwas und im Mittelfeld war der HSV physisch dominant. Der HSV war lauffreudig, kampfstark, spielerisch anspruchsvoll, bot eine geschlossene Mannschaftsleistung und investierte unheimlich viel in das Spiel. Fast makellos.
Fast.
Die Stuttgarter Führung erzielte Gomez in der 80ten Minute durch einen schnellen Gegenangriff. Ein Stuttgarter rennt auf den Hamburger Strafraum zu, Mathijsen und Fillinger rennen auf den Stuttgarter zu, dabei löst sich der außen stehende Fillinger von seinem Gegenspieler Gomez. Der Pass kommt auf Gomez, Gomez dringt freistehend in den Strafraum ein und verwandelt. Wie gegen Wolfsburg leitet also auch diesmal ein Deckungsfehler von Fillinger die Niederlage ein. Für Fillinger umso bitterer, weil der Wechsel von rechts auf links ihm spürbar gut tat und er sowohl defensiv als auch offensiv sehr, sehr viel besser stand. Aber: bei Fillinger als auch anderen Spielern habe ich den Eindruck, dass bei denen die Kraft nur für 70 Minuten reicht.
Nach dem Treffer war der HSV nur noch ein Hühnerhaufen, rückte entsprechend verzweifelt auf und entblößte die Abwehr. Das 2:0 durch Hitzlsperger in der 85ten Minute, war einer dieser aus der Abwehr herausgeschlagenen Bälle, die der HSV in dieser Saison nur schlecht kontrolliert. Der Ball landet auf dem Schlappen von Hitzlsperger, der zieht ab, Wächter fällt wie ein Bahnschrankenwärter und Tor.
Symptomatisch für den HSV. Der reißt sich den Arsch auf, muss jede einzelne Torchance mit viel, viel Aufwand herausspielen und dann kommt so ein wilder Ball zu Hitzlsperger und Bumms und Tor.
Fassungslosigkeit in der Kneipe.
Defensive
Hmmm, okay, wie kriege ich das jetzt hingebogen: bislang habe ich den Schwerpunkt der Seuche aufgrund der Verletzungen und Platzverweise in der Abwehr verortet. Ein Großteil der Ausfälle sind Defensivspieler die normalerweise in der Startformation stehen. Die bisherigen Spiele haben auch deutlich Stellungsprobleme aufgezeigt. Sei es im Deckungsverhalten bei hohen Bällen im Strafraum, sei es beim Abdecken von Gegnern die abgewehrte Bälle in der zweiten Reihe verwerten.
Tatsächlich zeigte die Defensive gestern 80 Minuten lang kaum ein Problem. Mathijsen wird immer mehr zu einem Stützpfeiler in der Abwehr, steht von Spiel zu Spiel immer souveräner. Fillinger war heute, im Gegensatz zum Spiel in Wolfsburg, 70 Minuten lang bundesligatauglich. Klingbeil tut das was er soll. Das ist zwar nicht viel, aber “Solidität” ist für den HSV in seiner derzeitigen Verfassung eine wichtige Tugend.
Der Spieler mit den aktuell schlechtesten Karten war Mahdavikia, dem zuviele und zu schlechte Pässe vorgeworfen wurden. Die Statistik sagt aber: drittmeisten Ballkontakte im Spiel, die meisten angekommenen Pässe (49). Aber trotzdem ist der Eindruck ein anderer: sehr ineffizientes Spiel.
Feilhaber spielte wieder den Sechser. Unauffällig, aber hard workin. Aber ähnlich wie bei Fillinger: der Akku scheint nur für 70-80 Minuten zu reichen.
Offensive
Wenn man in einer Partie soviele Spielanteile hat, wie der HSV in Stuttgart und es springt kein Tor dabei heraus und es werden auch nur drei Schüsse auf das Tor abgegeben, dann ahnt man das Problem.
Bis zum Strafraum war alles sehr ansehnlich. Aber der HSV tat sich verdammt schwer gegen kompakt stehende Stuttgarter zum Torabschluß zu finden (was an das Wolfsburg-Spiel erinnert). Insbesondere in der zweiten Halbzeit sah man immer wieder Mittelfeldspieler wie van der Vaart oder Trochowski mit dem Ball quer vor dem Strafraum dribbelnd, auf der Suche nach einer Lücke um aus 20m abzuziehen. Aber da war nix.
Das zweite Problem ist die Raumaufteilung die noch nicht stimmt. Teilweise sah man wie gleich vier Hamburger zum gleichen Punkt hinrannten um auf einen Pass zu warten. Dieser Passweg wurde spielend von den Stuttgartern geblockt, während in anderen Teilen des Strafraums gähnende Leere herrschte. Auch rücken die Spieler aus dem Mittelfeld nicht clever genug nach. Es gab einige Chance durch abgeprallte Bälle oder unkontrollierte Befreiungsschläge der Stuttgarter, die ungenutzt blieben, weil Leute vom Schlage van der Vaarts, Jarolim, Mahdavikia, Trochowski oder Feilhaber nicht dort standen.
Van der Vaart: der Wille Autorität und Führung zu zeigen, ist da. Es fehlt aber an der Kraft. Wie gegen Wolfsburg in der zweiten Halbzeit über weite Teile untergetaucht. Und es bleibt dabei: seine Standards sind derzeit für den Arsch.
Trochowski: es gab überraschend viele Mißverständnisse mit van der Vaart, aber es deutet sich auch ein kongeniales offensives Duo im Mittelfeld an. Die Steigerung die Trochowski in den letzten 15 Monaten hinter sich gebracht hat und wie er nun auch schon Autorität auf dem Feld zeigt, finde ich beeindruckend. Das ist umso auffälliger, weil er, im Gegensatz zu Van der Vaart, derzeit die Kraft für 90 Minuten in den Beinen hat.
Jarolim: viel am Ball, aber ähnlich wie Mahdavikia, keiner bei dem man das Gefühl hat, das von ihm Impulse ausgehen.
Sanogo: Mr. Jekyll und Dr. Hyde. Für den HSV unverzichtbar, weil er den Ball halten und ablegen kann. Er ist schnell und technisch gut drauf. Kann schnelle Angriffe einleiten. Aber das Problem das derzeit ihm und damit dem HSV das Genick bricht: im Strafraum selber, zeigt er derzeit kein Durchsetzungsvermögen. Ich behaupte immer noch: derzeit unverzichtbar, weil es beim HSV keine Alternative zu seinen Qualitäten auch bei hohen Bällen, gibt.
Ljuboja: siehe Jarolim und Mahdavikia. Es sieht teilweise hochklassig aus, was er mit dem Ball anstellt. Aber so richtig passt die Stellenausschreibung “Stürmer” nicht auf ihn. Einen (1) Torschuß im ganzen Spiel? Er gehört zu den Spieler der Sorte “Dribbler” und “Fummler”, von denen der HSV derzeit genügend hat. Derzeit verzichtbar.
Guerrero: Kam in der 63ten Minute für Ljuboja. Irgendwie lief das Spiel an ihm vorbei. Das mag mit dem Fehlen von Atouba geründet sein, zudem bog Trochowski zu früh innen ab.
Berisha: Immer wieder von den HSV-Fans gefordert. Hatte freistehend vor dem VfB-Tor einen 100%igen Kopfball.
Fazit
Was soll man nach so einem Spiel sagen. Der HSV hat sehr vieles richtig gemacht. “Glück” ist kein Begriff den ich gerne im Sport verwende, aber wieder wurde dem HSV ein berechtigter Elfmeter nicht zuerkannt (früher Handelfmeter). Wieder fehlte bei der einen oder anderen Torchance ein Quentchen Glück oder Cleverness. All dieses “Bißchen” das fehlt, addiert sich derzeit zu einem schlecht aussehenden 15ten Tabellenplatz, obwohl es mit den Punkten aus Wolfsburg und Stuttgart ebenso gut ein 5ter oder 6ter Platz sein könnte.