Um neue Reize zu setzen, fuhren Thomas Doll und die Mannschaft gestern mit dem IC nach Bochum. Wenn sie heute zurückkehren, werden sie dieses, Seuche Galore, mit drei Mann weniger tun. Colin Benjamin fällt unglücklich und hat sich vermutlich den Unterarm gebrochen. Van der Vaart macht einen auf van der Pflug und bekommt für ein böses Tackling von hinten blank rot. Und Sorin soll es untenrum auch wieder zwicken.
Konsequenz für den HSV: wieder 60% Ballbesitz gehabt. Wieder doof verloren. Und Thomas Doll 20 Minuten nach Abpfiff im Interview mit literweise Wasser zwischen den Linsen.
93 Minuten Krise
Während der VfL Bochum nach dem Schalke-Spiel mit fast unveränderter Mannschaft antrat, musste der HSV wieder durchmischen. Mahdavikia wieder hinten rechts, hinten links ersetzte Colin Benjamin den verletzten Atouba, weil Fillinger sich ebenfalls verletzte. Im Mittelfeld vertrat Feilhaber den verletzten Wicky, während Jarolim auf die rechte Position zurückkehrte. Trochowski links und van der Vaart vorne komplettierten die Raute. Im Sturm spielten erstmals Ljuboja und Guerrero zusammen.
Der HSV dominierte von der ersten Minute an, fing sich aber bereits nach 5 Minuten die Bochumer Führung durch eine klassische Basketball-Situation ein. Der Ball kommt am rechten Strafraumeck zu Misimovic, der den Ball mit dem Rücken zum HSV-Tor annimmt und gegenüber Mathijsen abschirmt. Feilhaber und Dabrowski rennen halbrechts in den Strafraum rein, Feilhaber löst sich von Dabrowski um Misimovic zu “doppeln“, Misimovic spielt in dem Moment einen wohltemperierten Ball in den Lauf von Dabrowski, der aus kurzer Distanz ins Torwarteck trifft (im Gegensatz zu Steffen Simon möchte ich Wächter hier keine Schuld geben).
1:0 für den VfL Bochum nach nur 5 Minuten. Eine Traumkonstellation für eine Bochumer Mannschaft die mit schnellen Gegenangriffen zu arbeiten versteht. Bochum zog sich zurück, stand kompakt, ging aber immer wieder schnell auf den ballführenden HSV-Spieler drauf. Sehr feine Mannschaftsleistung.
Der HSV hielt nach Kräften gegen, aber zeigte einmal mehr, dass die Probleme im Laufe der Saison inzwischen nach vorne gewandert sind. Spätestens 30m vor dem Tor geht jeder Zug zum Tor flöten. Dazu kommen nicht ordentlich besetzte Flügel. Mahdavikia mühte sich nach Kräften, bevorzugt aber immer die Abzweigung gen Zentrum. Trochowski verstand sich nicht mit Benjamin, stand meistens zu weit innen, während Benjamin, eh nicht der große Techniker, als Rechtsfüßler sowieso nie bis zur Eckfahne zog.
Nach einem sinistren Foul an van der Vaart nach knapp einer halben Stunde, fingen die Bochumer an, jedwede Offensivaktion des HSVs durch eine Serie von Fouls im Keime zu ersticken. Dies war gleichzeitig der Moment an dem Schiedsrichter Stark seine Linie verlor. Stark zeigte zuviel Gutmütigkeit gegenüber den vorsätzlich und taktisch eingesetzten Fouls. Aber nichtsdestotrotz war nicht Stark an der Harmlosigkeit der Hamburger Schuld. 60% Ballbesitz und der erste Torschuß nach… 40 Minuten.
Der HSV fing zu schwächeln an und Bochum bäumte sich für eine Schlußoffensive auf, als der HSV aus einem Einwurf heraus, einen Konter fahren konnte. Guerrero paßt zu dem rechts long line laufenden van der Vaart, der mit dem linken Außenrist einen Ball auf den in den Strafraum reinlaufenden Ljuboja schlägt. Ljuboja kann aus vollen Lauf den Ball per Kopf ins Tor dübeln (1:1 43te Minute).
Halbzeit. Wie würde der HSV reagieren, der zuletzt Kollapse (Kollapsi? Kollapsanten?) in der zweiten Halbzeit zeigte?
Die erste Halbzeit wurde nahtlos und ohne Auswechslung in Halbzeit zwei fortgesetzt. Starker, kompakter Auftritt der Bochumer, Ratlosigkeit beim HSV in Strafraumnähe: wie zu einer Torchance kommen? Das Zusammenspiel der gesamten Offensive ist völlig für den Arsch. Die Laufwege von Guerrero und Ljuboja miteinander und mit dem Rest der Mannschaft sind völlig unabgestimmt. Ich weiß nicht wie häufig der Ball ins Leere gespielt wurde, nicht aus technischem Unvermögen, sondern wegen purem Mißverständnis.
Das Spiel neigte sich dennoch immer mehr gen HSV. Der nächste Schlüsselmoment des Spiels kam nach 60 Minuten. Benjamin musste wegen dem mutmaßlichen Armbruch ausgewechselt werden. Für ihn kam Sorin, der, wenn ich es richtig mitbekommen hat, seit seiner Genesung nur zwei Trainingsheiten absolviert hat. Nur eine Minute später foult Lense Trochowski im Strafraum. Stark gibt statt Elfmeter beiden Streithähnen die gelbe Karte.
Zehn Minuten später versucht Feilhaber den Ball nach vorn zu dreschen, der Ball wird von einem Bochumer abgefangen und schnell nach vorne gebracht. Der frisch eingewechselte Bechmann rennt gen Strafraum, Reinhardt foult ihn. Misimovic zirkelt den 20m-Freistoß wunderbar und unhaltbar ins Lattenkreuz im Torwart- Mauereck 2:1 für Bochum. Der HSV fortan völlig von der Rolle, jegliches Konzept ist flöten gegangen. Den Schlußpunkt setzt van der Vaart in der 80ten Minute mit einer Grätsche nicht von dieser Welt. In der Kneipe herrschte nur noch blanke Sprachlosigkeit.
Die HSV-Spieler
Tor-Wächter – Wenn Thomas Doll die Torleute hin- und herwechselt, dann weil er vom einen glaubt, dass der auch mal eine 100%ige halten kann oder weil er vom anderen glaubt, dass der mehr Präsenz im Strafraum zeigt. Nach 15 Spieltagen ist die Wahl zwischen Kirschstein und Wächter wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wächter leistete sich in der zweiten Halbzeit bei einer Rückgabe einen kapitalen Bock, als sein Paß von Gekas abgefangen werden konnte. Über das 0:1 kann man insofern diskutieren, weil es nicht das erste Mal ist, dass es bei Wächter im kurzen Eck einschlägt.
Innenverteidigung Mathijsen, Reinhardt – das war nicht immer 100% souverän, ist aber momentan der beste Hamburger Mannschaftsteil.
Außenverteidigung Benjamin – die Beschreibung erinnert an Klingbeil: seine Fähigkeiten sind limitiert, die Position ist ungewohnt, aber die Ansprüche sind derzeit nicht hoch in Hamburg. Aber an Benjamin klebt derzeit leider die Seuche. Erst die elend lange Knieverletzung, dann die unberechtigte rote Karte (in Cottbus?) und nun beim Stolpern über Ball/Bein einen Armbruch. Er tut mir leid. Wie soviele beim HSV.
Nach dem Armbruch kam Juan Pablo Sorin rein. Diese Auswechslung symbolisiert die personelle Not des HSVs. Natürlich bringt man normalerweise keinen Spieler nach einer mehrwöchigen Verletzungspause und zwei Trainingseinheiten in einem heißen Abwehrduell für 30 Minuten rein. Das Doll es trotzdem tun muss, sagt alles. Und das Sorin sich möglicherweise wieder verletzt hat, zeigt den Teufelskreis des HSV auf. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie Doll noch 11 Mann zusammenkratzen soll.
Außenverteidigung Mahdavikia – er ist kein klassischer Außenverteidiger. Er ist auch ineffektiv, aber er treibt den Ball nach vorne, hat mal wieder die meisten Ballkontakte (87). Bei der derzeitigen Personalsituation eher eine positive Erscheinung.
Mittelfeld zentral/defensiv Feilhaber – spielte in dieser Saison einige Male von Beginn an, ehe er zu schwächeln anfing. Einige Spiele Pause haben ihn sichtlich gut getan. Hat zwar das 0:1 verschuldet, war aber sehr emsig, sehr bemüht und schaltete sich zum Ende der Partie immer mehr in die Offensive ein. An Feilhaber keine Vorwürfe.
Mittelfeld rechts Jarolim – Tatsächlich hielt sich Jarolim häufiger zentral auf, teils an der Nahtstelle zwischen Feilhaber und van der Vaart, teils als “Backup” für Feilhaber, da Mahdavikia die rechte Seite meistens alleine beackern konnte. Fighter vor dem Herrn, 60% gewonnene Duelle, zum ersten Mal in der Saison selber aufs Tor geschossen. Aber immer wieder: hier ein Schnörkel zu viel, dort ein Haken mehr.
Jarolim wurde nach 74 Minuten ausgwechselt, entweder weil Doll mit Sanogo eine dritte Spitze bringen wollte, oder weil Jarolim die Kräfte schwanden.
Mittelfeld links Trochowski – Totalausfall, völlig überspielt, keine Antizipation für das Spiel und seine Kollegen. Wurde nach 70 Minuten gegen Laas ausgewechselt, der aber keine Bindung zum Spiel fand.
Mittelfeld zentral/offensiv van der Vaart – Licht und Schatten. Immer wieder agil, bemüht. Glanzstücke wie die grandiose Außenrist-Torvorlage, aber die Blutgrätsche des Mannschaftskapitäns ist in der derzeitigen Situation unentschuldbar.
Sturm Guerrero, Ljuboja – Ich hoffe der Treffer wiegt Ljuboja jetzt nicht in Sicherheit, denn der Rest war eine sehr grottige Leistung. Ich erwarte von einem Stürmer, dass er bei Ballbesitz in erster Linie den Torabschluß sucht. Aber Ljubojas erste Option ist IMMER der Paß. Und wenn man sich dann all die Kämpen wie Mahdavikia, Jarolim, van der Vaart und Trochowski ansieht, die ebenfalls alle Zauderer vor dem Herrn sind und lieber den gepflegt Innenrist-Paß spielen, als dem Ball mit der Pike Schmerzen zuzufügen, dann ist Ljuboja einfach eine krassestmögliche Fehlbesetzung.
Auch wenn Ljuboja jetzt zum ersten Mal über die volle Strecke mit Guerrero gespielt hat, da ist generell viel, viel zu wenig Spielverständnis zwischen Ljuboja und dem Rest des Teams. Seit Wochen. Und ohne Besserung
Artverwandtes kann auch zu Guerrero gesagt werden. Guerrero hat zwar mehr Zug zum Tor, aber auch hier stimmt das Spielverständnis mit dem Rest nicht und auch Guerrero ist eher ein Stürmer der von hinten kommt, als dort zu stehen, wo es weh tut. Und wenn alle von hinten kommen und alle lieber die Torvorlage geben wollen, als den Vollstrecker spielen, dann produziert man eben 60% Ballbesitz und wenig Torschüße.
Tal der Tränen
Ich hatte es bereits vor einigen Wochen geschrieben: so wie Thomas Doll während und nach dem Spiel aussieht, tut er sich das nicht mehr lange an. Er hat seine Hände geknetet, sein Gesicht massiert und stand kurz vor dem Platzverweis. Im ARENA-Interview 20 Minuten nach dem Spiel, stand ihm das Waser in den Augen so hoch, als hätte er eben seine Entlassung mitgeteilt bekommen. In den Sportschau-Bildern später, war zu sehen, wie er vor der Abfahrt zu den Fans an den Stadiontoren ging und mit diesen diskutierte. Von den Fans war nicht der Hauch von Groll gegen Doll zu spüren. Doll selber klang wieder sehr aufgeräumt.
Ich habe aber was die berufliche Zukunft von Doll angeht, keine Hoffnung mehr. Ich bleibe dabei. Ich würde es mir wünschen, dass der HSV mit Thomas Doll in die Rückrunde startet. Aber ich kann nicht glauben, dass sich der Vorstand den geläufigen Mechansimen weiter entziehen kann. Alleine die Mitgliederversammlung am 11.12. dürfte Doll noch eine kosmetische Schonfrist vor einer Verkündung der Entlassung oder des freiwilligen Rücktritts geben.
Sollten Hoffmann und Beiersdorfer aber die Geschichte mit Doll durchziehen und ihn behalten, dürfte die beiden als Vorstand mit den dicksten Eiern in der Bundesligageschichte durchgehen.
TV, TV
Uwe Bornemeier kommentierte bei ARENA die Einzeloption und bot eine okaye Leistung. Klar, wenn ich mir einen Kommentator schnitzen könnte, dann… aber er fiel nicht weiter unangenehm auf, was schon mal gut ist.
Was ich aber noch nie erlebt habe, war eine derart über die Bildregie der DFL/Sportcast aufgebrachte Kneipe. Es hätte nicht viel gefehlt und die Meute hätte die Leinwand angefackelt.
Es war im Grunde genommen immer wieder derselbe Fehler: beim schnellen Spielaufbau blieb die Kamera als Close-Up auf den Ballträger bis er in den Strafraum eindrang. Mangels Totaler hatte man keinen Überblick über die Spielsituation, mitlaufende Spieler oder Entfernung zum Tor. In dieser Konzentration habe ich sowas noch nie erlebt. Anscheinend hielt der Regisseur das für schick. Die Kneipe, mich eingeschlossen, hat es zur Weißglut gebracht und nach 15 Spieltagen darf so etwas eigentlich nur dann passieren, wenn der etatmäßige Regisseur Sekunden vor den Anpfiff wg. Durchfall zum Klo entschwand und der Praktikant an die Regler gesetzt wurde.
Was bei diesem Spiel zudem auffiel, wie schwer es doch ist, Zusammenfassungen zu produzieren. Wer die Spielzusammenfassung mit Michael Born auf ARENA sah, bekam nicht wirklich Ahnung vom Spiel. Das ist kein Vorwurf an Michael Born. Der muss zusehen wie er in 3’30-5’00 (?) all den Stoff reinpackt. Aber dabei fällt m.E. Essentielles für die Beurteilung des Spiels weg, z.B. wie sich das Spiel zwischen den Torchancen und anderen Aufregern verhält. Namentlich die harte Gangart der Bochumer nach einer halben Stunde, die die Hamburger nicht vertrugen und die Hamburger Aufgabe nach dem 1:2.
Bei der Sportschau habe ich das Gefühl, dass die Zusammenfassung länger dauerte, aber bei Steffen Simon noch mehr in die Einzelteile (= Aneinanderreihung der “Höhepunkte”) zerfiel, als bei Michael Born.
Randnotiz
Was die Westfälische Rundschau durchsickern ließ, wurde nach der Partie Dortmund – Wolfsburg offiziell bekanntgegeben: Bert van Marwijk und Borussia Dortmund werden sich nach Abschluß der Saison einvernehmlich trennen. Thomas von Heesen wurde als Nachfolger (noch) nicht bestätigt. Arminia Bielefeld hat ja bekanntlich eine Blaupause wenn der Trainer seinen vorzeitigen Abgang zu einem anderen Bundesligisten ankündigt.