Es ist kein gutes Zeichen, wenn ich mit erhobenen Händen durch den Flur renne und schreie “Ist es wieder soweit?! Ist es wieder soweit?!“. Nein, au contraire, es ist ein Zeichen dafür, dass der Kalender mal wieder schneller ist, als ich es bin.
Es ist wieder NFL-Saison. Also nicht so schnell, nicht jetzt oder heute, aber am Donnerstag. Oder weil ich fest daran glaube möchte, dass die Saison eigentlich erst am Sonntag beginnt.
Es gibt solche und solche Sportarten. Aber ich dürfte zu nicht vielen Ligen ein so emotionales Verhältnis haben, wie zur NFL. Viele Sportarten bekommt man “geschenkt“. Man braucht nur den Fernseher einzuschalten und irgendwo wird bestimmt gerade ein Fußball gekickt oder fliegen Skifahrer auf die Fresse. Das ist jetzt nicht anders als es vor fünfzehn Jahren war, als deutsche Städte schon als topmodern galten, wenn man sechs TV-Sender über Antenne empfangen konnte.
Nein, NFL bekam ich als kabelloser Gesell nicht geschenkt. Das musste ich mir mühsam erarbeiten, mühsam kaufen.
In den Achtzigern bekam ich vom Football-Spiel irgendwie eine Grundahnung. Hier und da ein Kurzbericht im Öffentlich-Rechtlichen. 1987 oder so, wurde Tele 5 in Hamburg via Antenne übertragen und Tele 5 übertrug damals einmal im Jahr Super Bowls, durfte nach Absprache mir RTL extra 2 Stunden früher auf Antenne.
Ungelogen, mein Basiswissen American Football baute anfangs auf eine einzige Übertragung pro Jahr auf. Es hat meistens eine Halbzeit gedauert, bis ich mich erinnerte, was ich schon letztes Jahr alles gelernt hatte.
Ich sog alles auf, was ich fand. Ich entrümpelte meine DXer-Ausstattung um auf Mittelwelle die Übertragungen von AFN auf 1197 und 873 kHz zu empfangen. “The Comeback” verfolgte ich live auf AFN. Ich fixte einen Kumpel, wir sahen gemeinsam die SuperBowl im Fernsehen, gingen zu den Spielen der 1991 frisch aufgestiegenen Hamburg Silver Eagles und später zu Axel Gernerts Rebellentruppe Hamburg Blue Devils. Waren 1992 beim letzten Heimspiel der Galaxy vor der dreijährigen World League-Pause.
Übers Internet, besser: über CompuServe, lernte ich einen US-amerikanischen Bundesliga-Fan kennen. Und Mitte 1995 entstand eine Abmachung: er würde mir jede Woche NFL-Tapes schicken und ich solle ihm Bundesliga-Spiele rüberschicken. Ich hatte den bittereren Teil der Abmachung: ich hatte zwar inzwischen seit einigen Monaten Kabel, aber kein PREMIERE und musste die Spiele stattdessen vom SAT.1-Dienstleister kaufen, für 20-30 DM pro Stück. Fünf von den Tapes schickte ich als Paket. Selbst als Paket per Seepost (6 Wochen unterwegs) hat mich das jedesmal zu den 150 DM weitere 45 DM gekostet. Jeden Monat. Mit anderen Worten: ich musste finanziell ziemlich bluten.
Aber für was: jede Woche kamen fünf bis sechs NFL-Spiele, aufgenommen aus US-Fernsehen. Tony wohnte nahe Baltimore, just an der Schnittstelle der TV-Märkte von Baltimore, Philadelphia und Washington und hatte daher die pralle Auswahl an NFL-Spielen.
Und das ist für mich der NFL-Saisonbeginn: wie ich damals, im September 1995 die erste Kassette in den Videorekorder einschob und ich zum ersten Mal richtiges US-Fernsehen sah. Wie Paul Maguire, Phil Simms und Dick Enberg auf NBC kommentierten. Wie ich im US-Fernsehen die goldenen Farben des Indian Summers sehen konnte und bei mir die Herbstsonne durch die offenen Lamellen der schwarzen Jalousie auf die gelb-orange Wand schien.
Auch auf die Gefahr hin, sich wie ein alter Kriegsveteran anzuhören, aber wenn man so etwas mitgemacht hat und derart intensive Momente gespürt hat, kann man nur milde darüber lächeln, wenn anderenortes Empörung über ein leicht verwaschenes Bild von NASN herrscht.
Ich kann deswegen einem Saisonbeginn mitten in der Woche nachts, nichts abgewinnen. Saisonbeginn hat am Sonntag spätnachmittags zu sein. Wenn ich am Vormittag anfange Streams zu suchen, in denen bereits um vier Uhr morgens US-Zeit hochtourige ESPN-Moderatoren über den anstehenden ersten Spieltag diskutieren.
Bei aller Rührseligkeit (darf ich auch an das Schrapnell erinnern, dass seit dem Krieg 1870/71 in meinem rechten Oberschenkel sitzt) heißt es nicht, dass ich mich um eine profane Vorschau drücke.
AFC East
Das Thema der diesjährigen AFC East-Saison könnte eine fällige Wachablösung der New England Patriots durch die Miami Dolphins werden. Mit QB Culpepper hat Miami ein wichtiges, noch fehlendes Puzzleteil bekommen, während die New England Patriots teils freiwillig, teils unfreiwillig sich von Spieler und Coaches getrennt haben. Dabei sehe ich weniger ein Problem im Ersatz der Spieler – das konnten die Pats in den letzten Jahren immer wieder exzellent kompensieren – sondern im Ersatz der Coaches die die Pats inzwischen Jahr für Jahr verlieren. Und schwupps, schon wieder ein neuer DefCoord.
Miami Dolphins
Ich bin kein Freund des Charakters von QB Daunte Culpepper, aber ich vergesse nicht, was ich vorletzte Saison in ihm gesehen habe. Nicht mehr den Mr. Butterfinger vergangener Tage, dem der Ball immer wieder durch die Finger glitt, sondern jemand der mit Autorität auf dem Feld stand und das Team auf seine Schultern nahm.
Ich will ihm zugute halten, dass dank der windelweichen Führung von Headcoach Mike Tyce das gesamte Team den Bach runterging. Deswegen sei die letzte Saison, inkl. Verletzung, abgehakt.
Auffällig bei Dolphins-Headcoach Nick Saban ist wie er in aller Ruhe seinen eigenen Stil durchzieht, ohne unendlich viele Schlagzeilen zu produzieren, wie es einige seiner Vorgänger aus dem College-Bereich durchgezogen haben (Spurrier anyone?).
Mit Mike Mularkey hat er zudem einen originellen OffCoordinator bekommen, der die Vielseitigkeit (Physis!) Culpeppers ausnutzen kann.
Übrigens wurde Marcus “New Mexico” Vick “nur” in den Practice Squad übernommen, nachdem er in der Preseason so ziemlich alles in der Mannschaft gespielt hat, was man spielen kann.
New England Patriots
Ich glaube an die Wachablösung in der AFC East. Kein Team konnte die Spielerabgänge und Verletzungen so gut kompensieren wie die New England Patriots, aber von Jahr zu Jahr hat man immer stärker den Eindruck gehabt, dass diese immer mehr aus der Puste geraten. Letzte Saison pfiffen sie aus dem letzten Loch.
Und ich glaube dass dieses Jahr die Grenzen der Kompensationsfähigkeit endgültig erreicht werden. Was ich weniger an Spielern, als am Coaching Staff festmache. Nach dem Wechsel von Eric Mangini ist nun der dritte Def.Coord. binnen drei Saisons gekommen.
Im Kader schrieb zuletzt WR Deion Branch wegen seines Holdouts Schlagzeilen, aber soviele Anspielstationen wie QB Tom Brady im Ärmel hat, sollte es nicht auf diesen einen Receiver ankommen.
Im Special Team hat man sich von Veteran K Adam Vinatieri verabschiedet. In der Defense ging LB Willie McGinest, während der Chargers/Dolphins Spring-Ins-Feld Junior Seau aus seinem wenige Tage währendem Ruhestand reaktiviert wurde. Kaum ein Spieler den ich so bewunderte, hat bei mir so schnell Ekelherpes ausgelöst, wie Seau mit seiner Abschiedsrede, die so wirkte als hätte er Rhetorik-Training bei Tom Cruise gemacht.
Buffalo Bills
In Buffalo hat die Konterevolution gewonnen. Marv Levy wurde in seinem 80ten Lebensjahr zum General Manager der Bills ernannt. Eine Aktion die allerorten nur mit dem Kopf schütteln ließ.
Aber unter Levy und dem neuen Headcoach Dick Jauron (Ex-Bears, Ex-Lion) hat sich eines nicht verändert: das potentielle Bäumchen-Wechsel-Dich-Spielchen auf der Quarterback-Position zwischen JP Losman und Kelly Holcomb. Geht Jauron angesichts des qualitativ dünnen Kaders nach bewährtem Rezept vor, wird viel über RB Willie McGahee gelaufen und der Rest von einer starken Defense eingetütet.
NY Jets
Neuer Trainer, neues Glück. Nach der letzten Saison wussten das Jets-Front Office nicht so richtig, ob man nun Headcoach Herman Edwards feuern oder behalten sollte. Als aber die Anfrage der Kansas City Chiefs kam, Edwards gegen einen Draft Pick zu tauschen, wusste man, dass man so schnell Edwards nicht so billig los werden würde…
Edwards war einer Players Coach, der viel mit Motivation arbeitete und sich immer vor die Spieler stellte, bei dem ich aber das Gefühl hatte, dass er schon seit längerem sein Pulver verschossen hatte. Das aber die letzte Saison so verheerend wurde, hatte auch viel mit Pech zu tun, als den Jets binnen kürzester Zeit sich alles an Quarterbacks verletzte, was zwei Beine hatte und einen Ball werfen konnte (3 Spiele Pennington, 6 Spiele Testaverde, 11 Einsätze Bollinger, 2 Einsätze Fiedler).
Die Verletzungen der letzten Saison strahlen auch in dieser Saison rein: RB Curtis Martin, die Ein-Mann-Offense der letzten Jahre, zog sich im letzten Dezember eine so schwere Knieverletzung zu, dass er in dieser Saison frühestens in Woche #6 oder #7 wird wieder im Kader stehen können. Viele glauben, das Martins Karriere de-fakto zu Ende ist. Der Arbeits-RB der Jets wird Ex-49ers RB Kevan Barlow oder RB Derrick Blaylock werden.
Vor vier Jahren sah alles danach aus, als würde QB Chad Pennington der Franchise-Quarterback der Jets werden, der Weg zu Ruhm und Reichtum vorgezeichnet. 2003 verletzte er sich bei einem Preseason-Spiel so schwer, dass er erst im November zurückkehrte. 2004 verletzte sich Pennington in Woche #9 am Schultergelenk, spielte zwar die Saison durch, aber der massive Schaden wurde später offenbar und er wurde im Februar 2005 operiert. Pennington startete zwar die Saison 2005 als QB. Trotz schlechter Leistungen galt er offiziell als fit… und musste sich drei Wochen später wieder an der gleichen Schulter operieren lasse.
Nun ist QB Pennington zurück. In der Offseason war er clever genug und hat seinen Vertrag zurückstutzen lassen und damit die plötzliche Entlassungsgefahr minimiert. Er ist nach der Preseason auch prompt zum Starter ernannt worden. Aber wird Penningtons Schulter halten, zumal er von seinem starken Wurfarm lebt?
Als Nr. 2 steht dahinter QB Patrick Ramsey, der in mehreren Anläufen sich nicht in Washington durchsetzen konnte und auch bei den Jets in den Trainingscamps klar schlechter als Pennington gewesen sein soll. Der letztjährige Ersatzmann Brooks Bollinger wurde zu den Vikings getradet.
Mit Pennington und Martin bekommt der neue Headcoach Eric Mangini zwei riesengroße Fragezeichen als Rucksack mit. Sollte insbesondere die Option Pennington wegfallen, wird es zappenduster. Hoffentlich hat er sich einiges von seinem Lehrherr Belichick abgeguckt, denn der Jets-Kader ist nicht sonderlich tief. Die OL hat durch die Neuzugänge Gerfuson und Mangold Blutauffrisch bekommen, könnte aber in den ersten Wochen noch löchrig sein. Allgemeine Erwartung: ganz, ganz bescheidene Offense.
In der Defense soll man von 4-3 auf 3-4 umsteigen, was die Karten z.B. für den jungen ILB Vilma neu mischt.