Das Geschwuchtel II: Wichstheater (oder: Bundesliga-Finale 2005/06)
(Aus der Serie: Kryptik ist das neue Schwarz)
Zum letzten Spieltag der Bundesligasaison 2005/06 fuhr die DFL noch einmal mit zwei LKWs voll Dramatik vor dem Fernseher vor. Zwei adrenalinreiche Spiele um den letzten Abstiegsplatz und die direkte Champions League-Qualifikation versöhnten mit einer ansonsten eher blassen Spielzeit.
Das erste markige Statement des Tages setzte Marcel Reif, der mal wieder nur zweiter Sieger im Kampf gegen die Tontechnik blieb. Während in der Regie heftig am Ton herumfuhrwerkt wurde, entfuhr Marcel Reif – in bester “Dieses Geschwuchtel hat bald ein Ende“-Manier – ein markiges “Was ist das denn hier für ein Wichstheater?“. Der in der Pfalz aufgewachsene Marcel Reif hatte noch Minuten später einen derart dicken Hals, dass er nur in Pressatmung kommentieren konnte. Vor dem Wolfsburger Stadion fuhren dann auch Einsatzkräfte der Polizei auf, um den Ü-Wagen von PREMIERE in der Halbzeitpause vor einem möglicherweise randalierenden Reif zu schützen.
Ich hatte erwartet dass die Wolfsburger im Abstiegsduell vor wackeligen Knien nicht Geradeaus laufen könnten. Falsch. Wolfsburg legte einen sehr guten, dominanten Start hin, aber dann kam aus dem Nichts die Lauterer Führung von (wer sonst) Altintop in der 20ten Minute. Das Spiel kippte und Lautern war fortan sehr sicher unterwegs.
In der ersten Halbzeit konnte das Spiel HSV – Werder noch getrost ignoriert werden. Sehr vorsichtig, mit sehr viel Kalkül agierend. Die Führung von Werder (Klasnic, 27te, nach starker Vorbereitung von Klose) war logische Konsequenz der Bremer Überlegenheit, während der HSV zu wenig machte.
Nach der Halbzeit drehte sich alles um. Insbesondere das Spiel in Hamburg nahm enorm an Fahrt zu und wurde so intensiv geführt, wie es sich für das Duell um Platz 2 gehört. Grandiose zweite Halbzeit für den Zuschauer. Der HSV nun überlegend, aber im Angriff zu leicht ausrechenbar und vorallem zu verschwenderisch mit den ganz großen Chancen. Ailton machte einen auf Takahara-Double und hat zweimal freistehend vor dem Tor vergeben. In einer anderen Aktion riskierte Wiese alles als er sich in den Lauf von Trochowski reinschmiß und noch an den Ball kam. Alles andere wäre minimum Gelb und Elfer oder gar Tor gewesen. Davor ein nicht gegebener Elfer an Jarolim. Der HSV machte aber noch sein Tor in Form von Barbarez, der sich nachdrücklich für eine Vertragsverlängerung empfahl.
Werder kam nur noch selten aus der eigenen Halbzeit raus, machte aber in der 72ten die 2:1-Führung (Klose) und bekam zehn Minuten später einen Elfmeter, den Borowski aber nur an den Innenpfosten schoß. Der HSV versuchte Druck zu entwickeln und hatte seine Chancen, aber ich hatte das Gefühl, dass vorallem mental die lange Saison beim HSV seine Spuren hinterlassen hatte und Spieler wie Mahdavikia und Jarolim nur noch nach Schema F angriffen. Es blieb beim 2:1 für Werder. Im Grunde genommen ist es wurscht, solange beide es irgendwie in die CL schaffen. Doll war nach dem Spiel noch sichtlich wegen den vergebenen Chancen angefressen. Ich würde keinen Pfifferling darauf wetten wollen, dass wir Ailton wieder in Hamburg sehen werden.
In Wolfsburg nahm sich Kaiserslautern selbst den Rythmus, kam viel zu passiv in die zweite Halbzeit rein. Ohne das Wolfsburg nun Weltklasse gespielt hätte, wuchs der Druck auf das Lauterer Tor. Die Ballverluste geschahen immer früher. Dann kam der Doppelschlag in der 66ten und 69ten Minute mit dem zur Halbzeit eingewechselten Makiadi als Torschütze und Vorbereiter. Bei den Lauterer Bubis war zwar noch bis zuletzt der Wille da, aber das Fleisch war schwach. Es kam zwar 4 Minuten vor Schluß noch zum Ausgleich von Ziemer, aber man hatte nicht das Gefühl, dass die Lauterer wirklich noch das Wunder hätten schaffen können.
In München feierte man derweil sehr routiniert (um nicht zu sagen: unterkühlt) die Meisterschaft. Michael Ballack wurde sowohl beim Abschied vor Anpfiff als auch beim Überreichen der Schale so massiv ausgepfiffen, dass Hoeneß zu den Fans rannte und drauflospolterte.
Die Saison
Nicht nur die Meisterschaft war seit geraumer Zeit abgefrühstückt, sondern auch die Analyse des Meisters Bayern München, bei dem man im Jahr zwei von Felix Magath nur Stagnation erkennen konnte, was wesentlich zum schalen geschmack dieser Saison beitrug.
Wenn man überlegt wer die Mannschaft der Saison gewesen ist, fällt einem auf, wie mediokre die Bundesliga sich derzeit darstellt. Die halbe Liga scheint eher enttäuschend abgeschnitten zu haben. Der Glanz der Mannschaft der Saison fällt daher recht schnell auf den HSV, auch wenn er zuletzt seinen Zillionen Pflichtspielen Tribut zollen musste. HSV-Trainer Thomas Doll ist für mich einer DER Männer in dieser Saison. Was er in seinen knapp 18 Monaten Amtszeit beim HSV umgesetzt hat, ist für einen Bundesligatrainer-Novizen einfach fabulös. Es wird einem auch bewusst, wenn man die Saisonvorschau vom KICKER noch einmal durchblättert, in der der KICKER sowie die “Experten” Daum und Helmer den HSV jeweils auf Platz 8 getippt hatten. BTW: Zitat aus dem Resümee des KICKERs im letzten Sommer: “Im Saisonfinale zerstörte eine eklatante Abschlußschwäche den Traum von der direkten UEFAcup-Qualifikation“. Hmm, das Thema kennen wir irgendwoher…
Das Schöne am HSV: das was Doll und Beiersdorfer da geleistet haben, sieht, trotz des finanziellen Balanceakts, nach einem soliden Fundament aus.
Man kann über Werder Bremen und seine eklatanten Abwehrschwächen oder vielleicht naives Nach-Vorne-Spiel schimpfen. Aber nach dem heutigen zweiten Platz muss auch festgestellt werden: substantiellen Personalverlust aufgefangen (Ernst, Ismael, Magnin, Stalteri) und neben dem HSV die unterhaltsamste Mannschaft der Saison gewesen.
Dahinter folgt die Riege der Ambitionierten und Gescheiterten: Schalke, Leverkusen, Hertha und noch weiter unten (Platz 9) VfB Stuttgart. Hier ist der Weg für die nächste Saison ungewiss, was bei allen vier auch damit zu tun hat, dass die Trainer keine uneingeschränkte Autorität geniessen. Weder bei Slomka, Skibbe, Götz noch Veh hatte man den Eindruck, dass die Mannschaft auf Aktionen des Trainers reagiert. In Leverkusen und Stuttgart, vielleicht auch bei Hertha stehen gravierende personelle Änderungen an, z.b. der Weggang vom 21-Tore-Berbatov. Die nächste Saison wird also bei keinem der vier leichter.
In diese Riege der UEFAcup-Aspiranten versucht Borussia Dortmund einzudringen. Dort steht der vielleicht größte Umbruch seit längerem an. Auf der einen Seite werden Spieler wie Rosicky oder Koller gehen, auf der anderen Seite wird nun die Parole ausgebeben, dass wieder bewusst in den Kader investiert werden soll, um Zuschauer und Ansprüche bei der Stange zu halten. Bislang konnte Coach van Marvijk in Ruhe seine Youngster aufbauen. Der Druck dürfte mit der nächsten Saison und den Investitionen eher wachsen und die ersten unzufriedenen Stimmen über den manchmal recht sturen Holländer könnten schnell lauter werden. Ich rieche eine Sollbruchstelle.
Mit Nürnberg auf Platz 8 beginnt eine Gruppe von Teams, die eigentlich erwartet hatten, bis zum letzten Tag gegen den Abstieg zu kämpfen, aber mehr oder weniger früh durchgewunken wurden: Mainz (Platz 11) und Bielefeld (Platz 13). Bielefeld war für die meisten ein astreiner Abstiegskandidat, mich eingeschlossen, hatte man geglaubt, dass die Rettung von Bielefeld in der letzten Saison viel mit dem Konzeptfußball von Rapolder zu tun hatte. Zudem Abgänge von Buckley und Owomoyela. Pustekuchen. Rapolder ward seit einem halben Jahr in der Liga nicht mehr gesehen, Köln konnte sich vom Rapolderschen Konzept nicht schnell genug erholen, nur von Heesen und die Arminen sind noch drin. Von Heesen gehört damit für mich zu einen der unbesungenen Helden der Saison.
Die zweite Charge von Mannschaften bei denen Budgets größer als das Können war, folgt am Platz 10: Gladbach. Okay, zehnter Platz wäre für Gladbach so schlecht nicht, aber die Hoffnungen waren nach der Hinrunde größer, der Kampf gegen den Abstieg dauerte länger als erwartet. Und Hotte Köppel dürfte nicht zu halten sein.
Hannover 96, der Club der es besser als Ewald Lienen wusste und ihn entließ, als H96 auf Platz 13 war. Saisonabschluß: Platz 12. Fette Steigerung. Und Peter Neururer, der es besser wusste als Hans Meyer und die Saison vier Plätze und 6 Punkte hinter Meyer und Nürnberg abschloß.
Und schließlich Wolfsburg wo die Gedanken teilweise schon in europäische Regionen war. Am Ende der Wolfsburger Saison steht der Verlust eines Spielmachers mit viel Potential (D’Alessandro), der komplette Kollaps der sportlichen Führung Strunz/Fach und ein Trainer Augenthaler, der die Saison sogar zwei Plätze unterhalb von Fach beendete.
Die KICKER-Experten hatten in Sachen Abstieg überwiegend auf Frankfurt, Lautern und Bielefeld getippt. Lautern ist es geworden. Bei Lautern und Köln gibt es das gleiche Leitmotiv: zu spät. Wolfs Konzept der jungen Wilden griff vielleicht einen Spieltag zu spät, Kölns Latour brauchte zu lange um eine neue Ordnung in einem wild zusammengewürfelten Kader zu finden. Insbesondere bei Köln ist es bitter, weil jeder spürte, dass das spielerische Potential und der Zuschauerzuspruch da wären, um sich eigentlich länger in der Liga halten zu können.
Lautern bekommt die Quittung für die schwere finanzielle Schrumpfkur serviert, die Jäggi unternehmen musste. Ein letzter Abschiedsgruß der alten Lauterer Führung um “Atze” Friedrichs. Allerdings kann Jäggi nicht frei von Schuld gesprochen werden, denn sportlich griff er mehrmals schwer daneben, was sich an den Trainern ablesen ließ. Kurt Jara und noch mehr Michael Henke waren Fehlbesetzungen die nicht zur Region gepasst haben.
Die Personen
Trainer des Jahres ist für mich Thomas Doll, knapp vor Thomas von Heesen. Einen Eintrag ins Fleißheftchen gibt es für Schaaf für einen unterhaltsamen Kick und Hans Meyer für gelungene Personalführung wie im Fall Vittek. Bei solchen “Motivationskünstlern” wie Jürgen Klopp stellt sich mir immer die Frage: wie lange hält die Magie, wie lange spricht die Mannschaft noch auf so etwas an. Platz 11, saubere Arbeit, kann man wirklich nicht meckern.
Spieler des Jahres ist für mich Miroslav Klose. 25 Spiele, 25 Tore, 14 Vorlagen. Vor vier Jahren hatte er eine sensationelle WM als flipfloppendes Kopfballwunder in Asien. Danach schien der rehäugige Pfälzer in der Provinz unterzugehen. Das erste Jahr bei Werder war schon gut. Im zweiten Jahr hat er noch mehr Statur bewiesen und spielt nicht mehr mit den ganz großen Jungs, sondern ist selber einer. Er und Werder, das paßt einfach. Ich würde es ihm gönnen, wenn er eine sensationelle WM bekommt, denn seine leistungen stehen oft im medialen Schatten von den Schweinsteigers und Podolskis.
Bemerkenswert die “Wiedergeburt” des Vitteks oder auch von Mahdevikia. Nur zur Erinnerung: Doll, der HSV und Mahdevikia waren zur Saisonbeginn so zerstritten, dass es nach einem Rausschmiß des Iraners aussah. Doch Doll und Mahdevikia benahmen sich wie Männer und überwanden alle Animositäten.
Ansonsten fehlte es mir in dieser Saison an dominierenden Figuren. Jemand wie van der Vaart war letztendlich zu sehr mit sich und Verletzungen beschäftigt oder wie Ballack mit sich und Transfers. Marcelinho oder Lincoln sind zu launisch und fördern in ihren Teams eine spielerische Monokultur, die diesen nicht gut tut. Dank Jürgen Klinsmann und Jogi Löw sind sehr viele junge Spieler in den Mittelpunkt gerückt, die aber im Laufe der Saison zu inkonstant spielten und in mehr oder weniger lange Löcher fielen. Sie sind halt jung…
Eine merkwürdige Saison. Irgendwie langweilig, aber de-facto spannender als die letzte Saison, mit einer Meisterschaftsentscheidung erst am vorletzten Spieltag.
Ich hoffe vorallem auf die nächste Saison, denn Werder und der HSV machen auf mich einen solideren Eindruck, als Schalke, Hertha oder Stuttgart in der letzten Saison. Der HSV scheint einen guten “Masterplan” im Kopf zu haben und Werder könnte erstmals mit einer eingespielten Mannschaft in die Saison gehen (Micoud würde ich trotz seiner 14 Vorlagen nicht mehr als essentiell für die Mannschaft bezeichnen). Dieses “Eingespieltsein” gilt insbesondere für die Werder-Abwehr, die zwei Jahre in Folge mit Krstajic und Ismael derbe Verluste erlitt. Jetzt ist sie eingespielt und die Folge: beste Abwehr in der Rückrunde mit nur 16 zugelassenen Toren.
Von den anderen Mannschaften erwarte ich nicht viel. Slomka hat für mich nicht das Format und Veh nicht das Standing. Leverkusen war zu wackelig und der Verlust von Berbatov wird zu heftig. Bei Hertha habe ich bislang außer Ankündigungen verstärkt auf Talente aus dem eigenen Verein zu setzen, zu wenig gesehen. Bis auf Leverkusen schleppen alle diese Mannschaften zuviel Ballast in Form nicht immer reibungsloser Vereinsführung mit. Das Wohl und Wehe von Schalke und Stuttgart könnte davon abhängen, wieviel Macht Andreas Müller und Horst Heldt sich aneignen können und ob sie die Assauers und Hundts in den Vorstandsetagen ruhig stellen können. Bei Hertha ist hingegen ein Generationswechsel im Management nicht in Sicht.
Nun gilt es zwei bis drei Tage durchzuatmen, in einer lauwarmen Sommernacht das Champions League-Finale sich anzugucken und dann ist ja auch schon WM.
Und NBA-Playoffs. Und NHL-Playoffs. Und Motorsport. Und Baseball. Und…
PS – Zum Vergleich: meine Prognose zu Saisonbeginn:
Tief unten
Im Niemandsland
Die Kirschen auf der Torte